Erfindung der jüdischen Orthodoxie? 189
einen Juden angewandt hat. 295 Er nannte im Gefolge der Lavater-Affäre Moses Mendelssohn in einem Artikel in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1770 einen «orthodoxen Juden,. 296 Ein anderes Beispiel von judenfeindlicher Rede über die «Orthodoxie des jüdischen Aberglaubens» findet sich bei einem unbekannten Autor im zweiten Band von Dohms Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden (1783 ). 297 Ascher kennt diesen zweiten Band Dohms, aber er mag auch gewußt haben, daß Mendelssohn der erste Jude war, der den Begriff «orthodoxer Jude» in einem gedruckten Text benutzte. Mendelssohn hatte nämlich von Spinoza (!) geschrieben, dieser hätte ein orthodoxer Jude bleiben können, wenn er sich nur an die philosophischen Ideen seiner Ethik gehalten hätte, statt wie etwa in seinem Tractatus theologico-politicus religiöse Lehren des Judentums direkt zu attackieren. 298
Ein anderer Text, den Ascher eventuell kannte, ist Moses Hirscheis Kampf der jüdischen Hierarchie mit der Vernunft (1788), in dem Hirschei «die Orthodoxen» und die «jüdische Orthodoxie» nach Art Voltaires als Repräsentanten des Aberglaubens, der Ignoranz und priester- licher Heuchelei abkanzelt. In Hirscheis Buch, ganz im Gegensatz zu Ascher, gibt es jedoch keinen Vorschlag für einen religiösen Wandel des Judentums oder irgendeine Veränderung. Hirscheis rein destruktive, antirabbinische Polemik favorisiert eine ersatzlose Abschaffung der rabbi- nischen Traditionen.
Ascher ist also nicht der erste jüdische Autor, der über jüdische Orthodoxe schreibt. Soweit bekannt, war dies, wie in so vielen anderen Fällen, Mendelssohn. Aber Mendelssohns Äußerungen über jüdische Orthodoxie fallen zufällig und sind nicht Teil eines Konzepts oder einer Strategie. Sie bezeichnen keine Gruppe. Ascher hingegen gebraucht die Bezeichnung «orthodoxe Juden» mit systematischer, konzeptioneller und ideologischer Absicht, nämlich für die Widersacher einer Veränderung der jüdischen Religion. Während für Mendelssohn die Alternative zu ei-