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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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190 Die Erfindung der Orthodoxie

nem halachisch rechtgläubigen, orthodoxen Juden ein ein­zelner häretischer Jude wie Spinoza war, der aus der jüdi­schen Gemeinde Amsterdams ausgeschlossen worden war, begriff Ascher die «Reformation» des Judentums als Al­ternative zur Orthodoxie. Und während es bei Hirschei zur Zerstörung der jüdischen Hierarchie durch aufge­klärte Juden keine Alternative gibt, sah und setzte Ascher eine neue Alternative innerhalb des Judentums zwischen orthodoxen und veränderungswilligen Juden. Er differen­ziert zwischen zwei alternativen sozialen und religiösen Gruppen innerhalb des Judentums.

Man könnte nun einwenden, daß diese terminologische Neuerung, Juden als «orthodox» zu bezeichnen, lediglich ein Fall der unaufhörlichen Akkulturation und Assimila­tion der Juden an das bürgerlich-protestantische Milieu der Spätaufklärung in Preußen war. Dann hätte der junge Saul Ascher lediglich einen bei Protestanten und christ­lichen Aufklärern üblichen Begriff aufgenommen, also ei­nen dem Judentum ganz fremden Begriff auf das Juden­tum angewendet und ihn dabei umgemodelt. Dieses Argu­ment mißachtet allerdings Aschers politische Strategie hinter dieser Namensgebung. Diese Namensgebung pas­siert, das macht die Wiederholung des Namens deutlich, nicht unabsichtlich und zufällig. Ascher erfindet und eti­kettiert durch diesen Akt der Namensgebung die jüdische Orthodoxie und die jüdischen Reformwilligen als zwei di- stinkte und alternative politische, soziale und religiöse Gruppen im Judentum. Diese Erfindung ist ein Akt politi­scher Theologie.

3. Aschers politische Theologie

Ascher sah das Judentum seiner Tage in stetigem Nieder­gang: «Es ist nicht zu befürchten, sondern es existiert wirklich, daß viele Anhänger des Judenthums bloß den Namen ihres Glaubens inne haben. Täglich sehen wir die