190 Die Erfindung der Orthodoxie
nem halachisch rechtgläubigen, orthodoxen Juden ein einzelner häretischer Jude wie Spinoza war, der aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams ausgeschlossen worden war, begriff Ascher die «Reformation» des Judentums als Alternative zur Orthodoxie. Und während es bei Hirschei zur Zerstörung der jüdischen Hierarchie durch aufgeklärte Juden keine Alternative gibt, sah und setzte Ascher eine neue Alternative innerhalb des Judentums zwischen orthodoxen und veränderungswilligen Juden. Er differenziert zwischen zwei alternativen sozialen und religiösen Gruppen innerhalb des Judentums.
Man könnte nun einwenden, daß diese terminologische Neuerung, Juden als «orthodox» zu bezeichnen, lediglich ein Fall der unaufhörlichen Akkulturation und Assimilation der Juden an das bürgerlich-protestantische Milieu der Spätaufklärung in Preußen war. Dann hätte der junge Saul Ascher lediglich einen bei Protestanten und christlichen Aufklärern üblichen Begriff aufgenommen, also einen dem Judentum ganz fremden Begriff auf das Judentum angewendet und ihn dabei umgemodelt. Dieses Argument mißachtet allerdings Aschers politische Strategie hinter dieser Namensgebung. Diese Namensgebung passiert, das macht die Wiederholung des Namens deutlich, nicht unabsichtlich und zufällig. Ascher erfindet und etikettiert durch diesen Akt der Namensgebung die jüdische Orthodoxie und die jüdischen Reformwilligen als zwei di- stinkte und alternative politische, soziale und religiöse Gruppen im Judentum. Diese Erfindung ist ein Akt politischer Theologie.
3. Aschers politische Theologie
Ascher sah das Judentum seiner Tage in stetigem Niedergang: «Es ist nicht zu befürchten, sondern es existiert wirklich, daß viele Anhänger des Judenthums bloß den Namen ihres Glaubens inne haben. Täglich sehen wir die