Aschers politische Theologie
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Religion unter unsern Glaubensgenossen in größerm Verfalle. Mit jedem Tage sehen wir die Anzahl der Apostaten anwachsen. Wir sehen aber nicht den wahren Glauben durch geläuterte Grundsätze und vernünftige Principien ersetzt; sondern vielmehr diesen Glauben in einen wahren Köhlerglauben verwandelt, der selbst nie weiß, woran er haften soll .» 299
Ascher ist nicht der einzige Maskil, der diesen Niedergang beobachtet. Lazarus Bendavid, Isaak Euchel und Sa- lomon Maimon haben ähnliche Phänomene beschrieben. Eine steigende Zahl von aufgeklärten Juden gaben ihre Religion preis, sei es durch Taufe, sei es, daß sie Atheisten wurden, oder sei es wie in den meisten Fällen schlicht dadurch, daß sie am Leben der jüdischen Gemeinden, der Synagogen und Familien nicht mehr teilnahmen. Andere Juden hingegen kehren, so die Beobachtung Aschers, in umgekehrter Richtung zu einer Art blindem Köhlerglauben zurück. Dieser Köhlerglaube verschließt sich rationalen Prinzipien, Erkenntnissen und Überzeugungen, welche die jüdische Religiosität mit der bürgerlichen Akkultura- tion und Aufklärung vereinbar machen.
Der Niedergang ist sonach ein doppelter: Apostasie oder Köhlerglaube. Konfrontiert mit dieser schlechten Alternative von Verlust jüdischer Identität oder <Fundamentalis- mus> (avant la lettre) macht Ascher einen Gegenvorschlag. Er fordert eine «Reformation» des Judentums, eine Reform, welche die Halacha in der Weise entwertet und reduziert, wie die protestantische Reformation die katholische Tradition preisgegeben hat. Die religiöse Reform ist nach Überzeugung Aschers eine notwendige Vorbedingung der bürgerlichen Verbesserung der Juden, also eine Vorbedingung des übergreifenden politischen Ziels der Haskala. Die religiöse Reformation soll die Juden auf die bürgerliche Verbesserung vorbereiten, ohne sie zur vollständigen Aufgabe ihrer religiösen Identität zu zwingen.
«Reformation» ist ein von Ascher gezielt gewählter Begriff, der auf die protestantische Reformation nicht nur