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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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Aschers politische Theologie

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Religion unter unsern Glaubensgenossen in größerm Ver­falle. Mit jedem Tage sehen wir die Anzahl der Apostaten anwachsen. Wir sehen aber nicht den wahren Glauben durch geläuterte Grundsätze und vernünftige Principien ersetzt; sondern vielmehr diesen Glauben in einen wahren Köhlerglauben verwandelt, der selbst nie weiß, woran er haften soll .» 299

Ascher ist nicht der einzige Maskil, der diesen Nieder­gang beobachtet. Lazarus Bendavid, Isaak Euchel und Sa- lomon Maimon haben ähnliche Phänomene beschrieben. Eine steigende Zahl von aufgeklärten Juden gaben ihre Religion preis, sei es durch Taufe, sei es, daß sie Atheisten wurden, oder sei es wie in den meisten Fällen schlicht da­durch, daß sie am Leben der jüdischen Gemeinden, der Synagogen und Familien nicht mehr teilnahmen. Andere Juden hingegen kehren, so die Beobachtung Aschers, in umgekehrter Richtung zu einer Art blindem Köhlerglau­ben zurück. Dieser Köhlerglaube verschließt sich rationa­len Prinzipien, Erkenntnissen und Überzeugungen, welche die jüdische Religiosität mit der bürgerlichen Akkultura- tion und Aufklärung vereinbar machen.

Der Niedergang ist sonach ein doppelter: Apostasie oder Köhlerglaube. Konfrontiert mit dieser schlechten Alter­native von Verlust jüdischer Identität oder <Fundamentalis- mus> (avant la lettre) macht Ascher einen Gegenvorschlag. Er fordert eine «Reformation» des Judentums, eine Re­form, welche die Halacha in der Weise entwertet und redu­ziert, wie die protestantische Reformation die katholische Tradition preisgegeben hat. Die religiöse Reform ist nach Überzeugung Aschers eine notwendige Vorbedingung der bürgerlichen Verbesserung der Juden, also eine Vorbedin­gung des übergreifenden politischen Ziels der Haskala. Die religiöse Reformation soll die Juden auf die bürgerliche Verbesserung vorbereiten, ohne sie zur vollständigen Auf­gabe ihrer religiösen Identität zu zwingen.

«Reformation» ist ein von Ascher gezielt gewählter Be­griff, der auf die protestantische Reformation nicht nur