Aschers politische Theologie 193
zur Kritik des rabbinischen Bannrechts durch andere Mas- kilim bestreitet Ascher damit das Recht der «Orthodoxie» zu definieren, wer ein Jude ist und wer nicht, wer in eine jüdische Gemeinde gehört und wer nicht. Damit zeigt Ascher eine religiöse Alternative zum Traditionalismus auf und öffnet mit dieser Unterscheidung die Perspektive auf eine Pluralität von religiösen Gruppierungen innerhalb des Judentums, wie sie dann erst im 19. Jahrhundert durch die Entwicklung der liberalen, der konservativen und der neo-orthodoxen Richtungen im deutschen Judentum tatsächlich vollzogen wurde.
Nach Aschers Ansicht repräsentieren die Gebote nicht das «Wesen des Judentums», so wenig wie der Schulchan Aruch und die Halacha. Auch orthodoxe Juden repräsentieren, so Aschers wichtigste Argumentationsstrategie, entgegen dem Anschein nicht das Wesen des Judentums. Sie sind nur eine Gruppe von Juden unter anderen. Um das religiöse Monopol der Orthodoxie zu bekämpfen, muß Ascher argumentieren, daß Halacha nicht das Wesen des Judentums ist. Er ist der erste moderne jüdische Philosoph, der das Konzept vom «Wesen des Judentums» gebraucht. 300 Und er entwickelt dieses Konzept, um die traditionelle Identifizierung von Halacha und Judentum aufzubrechen. Denn wenn Halacha nicht das Wesen des Judentums ist, was dann?
Mit dieser Fragestellung eröffnet Ascher einen modernen innerjüdischen Diskurs um das Wesen des Judentums, der in Leo Baecks Das Wesen des Judentums (1905) eine wichtige Zwischenstation hatte und bis heute zwischen den verschiedenen religiösen Gruppierungen im Judentum fortgeführt wird. Denn jede Gruppierung mußte für sich beanspruchen, dem Wesen des Judentums am nächsten zu kommen. Was das Wesen des Judentums sei, das Halacha nicht mehr ungefragt ist, wurde in den innerjüdischen Disputen deshalb immer wieder neu definiert und redefiniert. 301
Am Ende seines Leviathan präsentiert Ascher seine reformierte Version der wesentlichen Bestimmungen des