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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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194 Die Erfindung der Orthodoxie

Judentums in einer dem Katechismus nachempfundenen, aber auch an das Jigdal und die Lehren des Maimonides erinnernden Liste von 14 Glaubensprinzipien. Dieses «Or­ganon» des Judentums, wie er seine Liste nennt, umfaßt die Einheit und Einzigkeit Gottes, die Patriarchen, die Offenbarung der Tora an Mose, die Vorsehung, die Ver­geltung aller guten und bösen Taten nach dem Tode, den Messias und die Auferstehung der Toten. Als allgemein­gültige Praxis aller Juden schreibt Ascher die Beschnei­dung, die Sabbatruhe, die jüdischen Feier- und ebenso Buß- und Versöhnungstage fest, aber z. B. nicht mehr die Speisegebote oder das Verbot der Mischehe. 302 Andere Mizwot sieht Ascher für einen reformierten Juden nicht mehr vor.

Dies führt zu einer noch viel tiefer liegenden Implika­tion seiner Schrift: Wenn man wie Ascher voraussetzt, daß die Mizwot nicht eine bestimmte Anzahl von unver­änderlichen, ewig feststehenden Geboten sind, sondern nur für eine bestimmte historische Situation gegeben wur­den, in anderen jedoch nicht mehr gelten, dann wird das Judentum selbst ein sich immer wandelndes historisches Phänomen. Insofern ist Aschers Leviathan die erste Philo­sophie des Judentums, die das Judentum als wandelbares historisches Phänomen darstellt. Der Leviathan markiert den Anfang jener Historisierung des Judentums, die in der Wissenschaft des Judentums Triumphe feiert. Aschers Phi­losophie ist daher ein Wendepunkt von den zeitlosen, me­taphysischen Betrachtungsweisen des Judentums zu den historischen, zeitgebundenen Betrachtungsweisen, wie sie in den profanen Geschichten des jüdischen Volkes von Isaak Markus Jost und Heinrich Graetz vorliegen. Philo­sophie des Judentums hat bei Ascher erstmals die Ge­schichte des Judentums zum Gegenstand und wird im 19. Jahrhundert dann von der Geschichte der Juden be­erbt.

Ist erst einmal akzeptiert, daß die Mizwot nicht ewige Geltung haben, dann hat sich unter der Hand das Subjekt