Freund-Feind
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der jüdischen Geschichte geändert: Nicht mehr Gott und seine Gebote leiten unveränderlich die Geschicke des jüdischen Volkes, sondern dieses bestimmt durch Annahme, aber auch Änderung der Gebote, autonom seine Geschicke. Religion existiert für Ascher nur unter der Bedingung und durch den Glauben der Gläubigen. Wenn indessen nicht die geoffenbarten Gebote Gottes, sondern der Glaube die jüdische Religion allererst konstituiert, wie Ascher ganz kantisch schreibt, 303 dann liegt die Leitung der Geschicke des jüdischen Volkes bei diesem selbst und nicht mehr bei Gott, denn Offenbarung ohne Glaube und Gehorsam der Menschen fällt ins Leere. Unter diesen kan- tischen Prämissen ist die jüdische Geschichte nicht mehr göttlich gelenkte Heilsgeschichte, sondern Geschichte des jüdischen Volkes, das durch seinen Glauben das Judentum allererst konstituiert. Wenn aber die Juden, nicht Gott, die Geschichte des Judentums machen, dann ist sie nicht mehr, um den Buchtitel Karl Löwiths 304 umzudrehen, Heilsgeschehen, sondern sie ist Weltgeschichte, profane Geschichte des jüdischen Volkes. Jüdische Geschichte ist nach Ascher nicht mehr historia sacra, sondern historia saecularisata.
4- Freund-Feind
Wie ist es zu rechtfertigen, bei Ascher von einer «Erfindung» der Orthodoxie zu sprechen? Haben wir es nicht mit dem deskriptiven Gebrauch eines Begriffs zu tun, den die christlichen Aufklärer jeweils gegen ihre konservativen Kirchengläubigen verwenden? Dazu ist zu bemerken, daß Ascher eine gelehrte und wohlinformierte Person war, ein sehr politisch denkender Zeitgenosse. Obwohl er niemals in einer Jeschiva gelernt hatte, verfügte er über Kenntnisse des Talmud. 305 Und obwohl er aus dem einigermaßen assimilierten Milieu der Berliner Haskala stammte, wo häufig die Kenntnisse der Rabbinica nicht mehr allzu gut