196 Die Erfindung der Orthodoxie
waren, 306 wußte er, daß es sowohl in der älteren als auch in der zeitgenössischen rabbinischen Literatur unaufhörlich Dispute über halachische Fragen gegeben hatte. Er wußte ferner sehr genau, daß die jüdischen Traditionalisten seiner Tage sich über Kabbala und Chassidismus stritten: Die Emden-Eybeschütz-Affäre war in allzu guter Erinnerung, und die Verbannung des hochverehrten Rabbiners und Kabbalisten Nathan Adler aus der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main 1779 und 1789 konnte Ascher gar nicht entgangen sein.
Alle die untereinander zerstrittenen Traditionalisten «Orthodoxe» zu nennen, läßt sie nach außen wie eine homogene Gruppe erscheinen. Diese Benennung trotz des Wissens um ihre andauernden internen Kämpfe und Streitigkeiten zu wählen, läßt diese Namensgebung als einen gezielten Akt der Vereinfachung wider besseres Wissen erscheinen. Daß es sich hier um eine die Differenzen zwischen den Traditionalisten verwischende Etikettierung handelt, gesteht Ascher ungewollt ein, als er einmal von «der orthodoxeste Jude» spricht, 307 denn dieser Superlativ konstatiert Unterschiede im Grad der Orthodoxie innerhalb des vermeintlich homogenen «orthodoxen» Lagers.
Ascher kreiert eine Dichotomie zwischen zwei Kollektiven, zwischen den orthodoxen und den reformbereiten Juden, obwohl er genau weiß, daß weder die Orthodoxen noch die Maskilim religiös und politisch homogene Gruppen waren. Diese Erfindung einer Dichotomie zwischen Orthodoxen und Reformbereiten ist simpel, aber effektiv. Man kann lange darüber streiten, ob das Wesen des Politischen, wie Carl Schmitt es formulierte, 308 die Entgegensetzung von Freund und Feind ist. Jedenfalls ist Aschers Entgegensetzung von Orthodoxie und Reformation höchst politisch. Und höchst erfolgreich, denn der Erfolg gab Ascher recht: Die ursprünglich diskriminierende Etikette «Orthodoxe» wurde nur etwa 40 Jahre später zu Beginn der deutschen Neo-Orthodoxie von den Orthodoxen als Selbstbezeichnung übernommen. 309 Sie ist seitdem