Freund-Feind
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als Selbstbezeichnung üblich und konturiert bis heute den Streit zwischen Orthodoxie und Reform ideologisch.
Die beinahe tragische Konsequenz dieses Erfolgs ist, dal? bis hinein in die heutige «Orthodoxie» viele Orthodoxe, Neo-Orthodoxe und Ultra-Orthodoxe glauben, daß wahre Orthodoxie darin besteht und immer bestanden hat, sich resolut jeglicher Reform des Judentums zu widersetzen. Damit identifiziert sich Orthodoxie mit einer vereinfachenden Etikette ihrer Gegner. Dabei wird vergessen, daß die halachische Tradition sich in ihrer ganzen Geschichte stets verändert hat, sich über unendlich vielfältige Diskussions- und Veränderungsprozesse fortentwickelte und neuen historischen Situationen anpaßte. Die Halacha ist niemals in der Weise <reaktionär>, veränderungsfeindlich oder erstarrt gewesen, wie Ascher und seine Etikette von den «Orthodoxen» glauben machen. Viele der heutigen Orthodoxen mißverstehen die halachische Tradition gerade dahingehend, daß sie glauben, Halacha sei im Sinne Aschers immer schon «orthodox», d. h. jeglicher Veränderung feindlich gesinnt gewesen. Die Geburt solcher Orthodoxie fand jedoch im Jahr 179z statt, nicht in Talmud und Midrasch.
Das gleiche wie für die Dichotomie von Orthodoxie und Reform gilt übrigens auch für die Opposition von Chilo- niim (Säkularen) und Datiim (Frommen), die heute in Israel die theologisch-politischen Fronten bestimmt, oder für die Opposition von sogenanntem Fundamentalismus und Moderne, wie sie im Namen eines Clash of Civilizations beschworen wird. Solche Dichotomien sind bis zur Unglaubwürdigkeit vereinfachend, nichtsdestotrotz aber politisch und theologisch effektiv, denn sie teilen die Welt in Schwarz und Weiß, Freund und Feind. Bei einer genauen Analyse Aschers schließlich läßt sich aber auch lernen, daß Pluralität und Pluralisierung ein Mittel sind, die Opposition von Freund und Feind zu unterlaufen, die, wie Carl Schmitt schrieb, 310 ihren existenziellen Ausdruck darin findet, für seine Überzeugung gegen den Feind in den Krieg zu ziehen.