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Ausländskorrespondent und Arzt in Paris
nimmt heute an, daß wir keinen einzigen Gedanken im Kopfe haben, den nicht ein durch unsere Sinne vermittelter äußerer Eindruck angeregt hat .« 6
Selbst Kunst, künstlerisches Talent und künstlerische Produktion haben, wie alle Phänomene von Kultur, ihre Basis in Sinneseindrücken, also letztlich nicht im Reich der Ideen, sondern in dem der Natur. Natur ist das Souterrain des Überbaus Kultur. Auch dieser Überbau unterliegt nach Nordaus Modell von Natur bestimmten organischen, ja sogar physiologischen Prozessen. Paradigma der Naturwissenschaft ist also für Nordau, wie es seinerzeit allgemein für das populäre Bild der Naturwissenschaften nach Darwin üblich wird, nicht mehr die Physik, sondern die Biologie. Das wissenschaftliche Weltbild und die Vorstellung von der Natur ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr wie seit Newton mechanistisch, sondern organizistisch. Modell und Inbild von Natur ist nicht mehr wie im 17. und 18. Jahrhundert die Maschine, sondern der lebendige, sich ständig in Entwicklung befindende Organismus.
Dem >natürlichen< Wechsel von Anspannung und Entspannung, Aktivität und Erschlaffung in der als ein großer Organismus verstandenen Natur ist, so Nordaus biologistisch-organizistisches Weltbild, auch Kultur unterworfen. Auf die Zeitachse und damit auf geschichtliche Epochen projiziert heißt das, daß es in Natur wie Kultur, im Organismus wie in der Kunst, Epochen der Erschlaffung und der Aktivität gebe. 7 Demgemäß unterscheidet Nordau in Paris unter der dritten Republik grundsätzlich zwei Typen von Literatur: die fiktionale, die in Zeiten kultureller Erschlaffung vorherrscht, und die realistische, die in Zeiten der Aktivität dominiert. Zola gehört für Nordau zu den Vertretern der realistischen Literatur. Kein Wunder, denn er ist der Schriftsteller von Paris. Besonders seiner Souterrains. Und Paris, so Nordau fast enthusiastisch, das ist die Weltstadt der Aktivität, der Umgestaltung und der Veränderung. 8
6 Ebd. S. 121.
7 Extremfall einer solchen organizistischen Kultur- und Geschichtsphilosophie ist später Oswald Spenglers Untergang des A bendlandes (1917).
8 Ebd. S. 124f.