Ausländskorrespondent
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Die Konsequenzen aus diesem Weltbild und seiner Metaphorik auf individueller Ebene zieht Nordau erst Jahre später. Denn auch der menschliche Körper und Geist sind hiernach Phasen der Aktivität und der Erschlaffung ausgesetzt. Gegen die physische und gegen die geistige Erschlaffung wird Dr. Nordau ganz folgerichtig Sport empfehlen, denn eine mens sana kann es in einem Organismus nur dann geben, wenn er über einen corpus sanum verfügt. Sport wird das Mittel gegen die körperliche Erschlaffung und indirekt gegen die geistige Degeneration. Umgekehrt dient >gesunde<, nicht-degenerierte Kunst auch dem physischen Wohlbefinden, wird dieses darstellen und befördern. Das gilt für die alten Griechen ebenso wie für das »Muskeljudentum« des Zionisten Nordau. 9 Sport, keine Drogen, Muskeln statt Marihuana, Ertüchtigung statt Entartung heißt der Schlachtruf eines Zeitalters, das Kultur nur noch als abhängigen Teil und als Spiegelung einer als Organismus verstandenen Natur zu begreifen vermag. Die Gesundheit des Organismus wird das Maß aller Dinge, alles andere für pathologisch erklärt. Dieses Zeitalter beginnt mit Autoren wie Nordau und hat sein Ende nicht erreicht, wenn bodybewußte Yuppies die Hippies als soziokulturelles Leitbild ablösen.
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Im Januar 1881 unternimmt Nordau eine literarische Vortragsreise mit den Vorträgen Don Juan und Faust sowie Die Lateiner und die Germanen nach Frankfurt, Stuttgart, Köln und Berlin. 10 In Berlin wohnt er bei seinem Freund Wilhelm Löwenthal (1850-1894), einem Berliner Arzt und Bakteriologen, der aus Galizien stammte, dort Judenverfolgungen erlebt hatte und sich darum in Berlin für die Ermöglichung der Auswanderung von Juden aus Rußland ein-
9 Max Nordau, »Muskeljudentum« (1900), in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Köln/Leipzig 1909, Bd. II, S. 219-223.
10 Die Manuskripte dieser anscheinend nie gedruckten Vorträge müssen wohl als verloren gelten.