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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Ausländskorrespondent

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Nach dem Aufstehen morgens sah Nordau, in späteren Jahren noch im Bett 14 , die wichtigsten Pariser Morgenblätter durch und stellte eine Depesche mit den wesentlichen Tagesnachrichten zu­sammen, die er im Lauf des Vormittags aufs Telegraphenbureau brachte und an die Berliner Redaktion telegraphieren ließ. Diesen Gang aufs Telegraphenbüro galt es mit den aktuellen Neuigkeiten am Spätnachmittag zu wiederholen. Seine Depeschen erschienen dann, nur mit dem Kürzel »Paris, eig.[ener] Ber.ficht]« versehen und ungezeichnet (im Gegensatz zum Feuilleton wird die Depe­sche nie mit Verfassernamen veröffentlicht) in der »Vossischen«, meist in der im Vergleich zur Abendausgabe eher politischem Morgenausgabe eines der folgenden Tage. Das bedeutete nicht, daß Nordau den Wortlaut tatsächlich Wort für Wort so geschrieben hatte, sondern nur, daß das Material dieser Meldung vom Pariser Korrespondenten und nicht von einem der Nachrichtenbureaus wie dem 1849 gegründeten Wolffschen Telegraphenbureau, den Vorläufern heutiger Nachrichtenagenturen, stammte.

Ob die Meldung in der Morgenausgabe des nächsten Tages, ob in der Abendausgabe, ob überhaupt oder ob zu einem späteren Zeit­punkt gedruckt wurde, entschied die Redaktion in Berlin. Sie hatte auch das Recht, den Text zu verändern, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Sie trug letztendlich für den Wortlaut und die Publika­tion des Korrespondentenberichts aus Paris die Verantwortung, nicht der Korrespondent, der durch die Anonymität des Berichts im Falle außenpolitischer Verwicklungen auch besser geschützt war. Der anonym bleibende Korrespondent hatte nur bestmöglich das Informations- und sprachliche Rohmaterial zu beschaffen, sei es indirekt aus französischen Zeitungen, sei es direkt durch Anwesen­heit bei wichtigen Debatten, Prozessen, Empfängen oder Reden. Nordau hat sich diesem Usus gebeugt und möglichst wenig Zeit für seine Korrespondententätigkeit verschwendet, fehlte diese doch für seine anderen, literarischen Ambitionen.

Sicherlich hat Nordau diese Fronarbeit und ihre alltägliche Rou­tine des öfteren verwünscht, da sie ihm nicht zuletzt die Zeit für seine ihm wichtigeren anderen Werke raubte. Aber sie macht ihn nolens volens über die Jahre zu einem profunden Kenner der fran-

14 Mündliche Auskunft von Mme. Maxa Nordau-Gruenblat, Paris, Juli 1990.