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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Ausländskorrespondent und Arzt in Paris

Ereignis wie die Soireen in Charcots prunkvoll eingerichtetem Haus am Dienstagabend, anläßlich deren sich das Tout-Paris der Wissenschaftler, Politiker, Künstler und Schriftsteller ein Stelldich­ein gab. 18 Wer die Wirkung dieses Ambientes und die Aura Char­cots ermessen will, lese nur einmal die Briefe des sonst nüchternen Sigmund Freud an seine Braut Martha Bernays nach: Freud kauft sich zur Vorbereitung auf die Soiree Charcots neue weiße Hand­schuhe und schnupft, weil er fürchtet, sich in dieser Gesellschaft linkisch zu benehmen, eine Prise Kokain, um sich zu entspannen. 19 Nordau wird es wenige Jahre zuvor nicht anders ergangen sein, als er sogar ohne Empfehlung zu Charcot kam und es, wie wir sehen, zu Ansehen bei ihm brachte und als Schüler promoviert wurde.

Zu Beginn des Jahres 1882, in dem er Nordau promoviert, hatte Charcot vor der Academie des Sciences seine bahnbrechenden Vorträge über Hypnose gehalten, die der Hypnose in der Medizin Anerkennung verschafften. Nordau konnte sich sonach zu Recht als Schüler des ersten Mediziners Frankreichs, eines Pioniers der Wis­senschaften und damit weltanschaulich wie wissenschaftlich als zur Avantgarde zugehörig fühlen. Nordaus Doktorarbeit vom Juli 1882 trägt den Neuerungen Charcots schon Rechnung. Hinter dem voll­mundigen, etwas effekthascherischen, eben journalistischem Titel (um beim Klischee zu bleiben) der Dissertation verbirgt sich keine sensationelle medizinische Neuerung, sondern, wie Nordau selbst in seinem Vorwort bemerkt, ein vergleichsweise kurzer, sauber aus­gearbeiteter Überblick von 62 Seiten über die europäische und nord­amerikanische medizinische Fachliteratur zum Thema der Kastra­tion der Frau durch das operative Ausräumen ihrer Eierstöcke. Me­dizinische Erfahrungen über Probleme, Risiken und Folgen dieser Operation werden, wie Nordau zugesteht, mangels einer ausrei­chenden Anzahl von aktuellen Fallbeispielen und mangels eigener chirurgischer Erfahrung aus der Fachliteratur referiert. 20

18 Vgl. Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, Zürich 1985, S. 143-153.

19 Freud an Martha Bemays, 2./3.Februar 1886, in: Sigmund Freud, Briefe 1873-1939, hg.v. Emstu. Lucie Freud, Frankfurt/M. 2 1968, S.209f.

20 S. Max. Nordau, De la castration de la femme. These pour le doctorat en medecine, Poissy: ImprimerieTypographique S. Lejay & C le 1882, S.5f.