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Ausländskorrespondent und Arzt in Paris
liert die Konsequenz aus Nordaus Dissertation, hat keine nachweisbare organische Ursache und ist deshalb nicht mit Methoden der Chirurgie, sondern eher durch die der Psychopathologie zu heilen. Triumphierend zitiert Nordau einen Fall aus der Berliner Charite, wo bei einer Hysterikerin eine Eierstock-Operation mit Hilfe einer Vollnarkose nur vorgetäuscht worden war, aber hinterher trotz intakter Eierstöcke die Symptome von Hysterie verschwunden waren. 24 Selbst in Fällen, in denen nach der Operation scheinbar eine Besserung eingetreten war, sei das anscheinend eine psychische Reaktion auf die Behandlung, nicht eine körperliche. Psychische Störungen aller Art haben für Nordau ihre Ursache zunächst nicht im Organischen, sondern im Geistigen. Hier hilft nicht das Skalpell, sondern nur die moderne Psychopathologie in den Spuren eines Charcot und anderer. An diese Grundsatzposition seiner Dissertation wird Nordau später anknüpfen: Seelische Krankheiten haben soziokulturelle, nicht organische Ursachen. Organische Symptome bei psychischen Krankheiten sind allenfalls Folgen, nicht Ursache derselben. »Entartung«, auch wenn der Begriff in dieser Dissertatioh noch nicht fällt, wird von Nordau ebenso wie von der Avantgarde der zeitgenössischen Psychopathologie als eine, solche sozio-kulturell durch die Stadtzivilisation verursachte psychische Krankheit betrachtet.
Liebe und Kabale
Im Jahr 1882, im Jahr vor dem Erscheinen des ihn berühmt machenden Buchs Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit, gehört Nordau noch zu den Unbekannten und doch im Kreise von seinesgleichen Anerkannten. Er ist schon als Autor einiger kleiner Bücher und Stücke hervorgetreten, vor allem ist er, was der umtriebige, polyglotte kleine Mann noch mehrere Lebensjahrzehnte in Paris bleiben sollte: ein Mittler. Er ist der Mittler zwischen der Welt des Journalismus und der durch Charcot oder Renan verkörperten
24 Nordau, De la castration, S. 57 f.