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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Ausländskorrespondent und Arzt in Paris

damit in einem strengen beruflichen Abhängigkeitsverhältnis. Er weigerte sich jedoch, ganz in der sozialen Welt dieses Berufs aufzu­gehen oder gar in ihr Karriere zu machen, den er eben >nur< als seinen Brotberuf betrachtete, um sich ansonsten der Literatur wid­men zu können. Der Welt von Medizin und Wissenschaft schließ­lich konnte einer nicht angehören, der nicht an der Universität re­üssierte oder den Arztberuf als normale bürgerliche Laufbahn hauptamtlich ausübte. Nordau lebte in Paris sozial zwischen all diesen Welten: Als Künstler war er nicht Bohemien, als Arzt und Wissenschaftler nicht Bourgeois, als ungarischer Journalist eines deutschen Blattes nicht Citoyen. Und als Jude wollte er sich selbst erst recht nicht identifizieren.

Er findet Freunde und Bekannte hauptsächlich unter den für län­gere Zeit in Paris ansässigen Ausländem, in der Pariser Gesellschaft bleibt er Gast, Ausländer, Jude, der allerdings, wie er in Meine Selbstbiographie gesteht, in den jüdischen Kreisen von Paris be­wußt nicht verkehrt. Soweit bekannt ist, hat er während der vier Lebensjahrzehnte in Paris in den Zeiten des Ruhms einige französi­sche Verehrer, aber kaum einen wirklichen französischen Freund, obwohl er in Politik, Wissenschaft und Künsten jedermann kennt und bei gesellschaftlichen Anlässen frequentiert. Offener als in je­nen frühen 80er Jahren, also vor dem ersten literarischen Ruhm, hat Nordau seine Rolle als Mittler vielleicht nie wahrnehmen können. Nach dem Erscheinen der Conventionellen Lügen und allemal dem von Entartung wurde er in manchen Kreisen persona non grata. Der literarische Ruhm öffnete Türen, verschloß jedoch dafür andere. Nordaus öffentlich gewordene Weltanschauung legte ihn auch fest und wirkte von daher polarisierend: Viel Ehr, viel Feind.

Im Jahre 1882, Nordau wird 33 Jahre alt, ist alles noch in Bewe­gung. Die soutenance de these unter Vorsitz von Charcot ermög­licht im September die offizielle Niederlassung als Frauenarzt und Geburtshelfer mit eigener Praxis. 26 Damit entfällt der Zwang, zu bestimmten Zeiten als angestellter Arzt in einer Klinik Dienst tun zu müssen. Auch finanziell ist er so sein eigener Herr. Als Behand­lungszimmer dient, wie noch vier weitere Jahrzehnte, ein Raum der eigenen Wohnung. Das entspricht am ehesten der Ausübung des

26 Max Nordau, Erinnerungen, a. a. O. S. 108.