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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Liebe und Kabale

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rolle reduziert und die »Heiratslüge« als sozial und ökonomisch gebändigtes Sexualverlangen interpretiert, so kann es Nordau je­doch auch emotional unmöglich gewesen sein, mit der selbstän­digen, emanzipierten Sarah Hutzier zusammenzuleben, die nach ihrer Scheidung, durchaus ungewöhnlich bis skandalös für das bür­gerliche juste milieu, 1886 den fünf Jahre jüngeren Schauspieler Josef Kainz heiratete. Umgekehrt kann es sein, daß Sarah Hutzier, von der keine Briefe an Nordau bekannt sind, nicht auf Nordaus Werben einging, weil sie die misogyne Abwertung des intellektuel­len und künstlerisch-kreativen Vermögens von Frauen durch Nordau, seine Reden und Schriften von der mangelnden »Tiefe« und »Beständigkeit« der Frau nicht ertrug. Und Nordau drängte auf ein geordnetes, langfristiges Zusammenleben. Er will keine Affäre, will nicht »Episode« im Leben einer noch nicht einmal geschiedenen Frau und Mutter sein. Jegliche Art von Boheme war definitiv nicht Nordaus Sache. Er verkehrt in Künstlerkreisen, aber er ist selbst, dafür gibt es eine überwältigende Menge von Zeugnis­sen, ein ungeheuer disziplinierter Arbeiter mit streng geregeltem Tagesablauf.

In Sarah Hutzier begegnete Nordau, dessen häusliche Umstände erotische Affären allenfalls im Milieu des Montmartre oder auf Rei­sen erlaubten, einer beruflich wie intellektuell gleichrangigen Frau mit fast gleichem Lebensalter, selbständig, mehrsprachig und weit­gereist, sichtbar weder eine höhere Tochter noch Jungfrau, ohne engere religiöse oder bürgerliche Bindungen und Familie. Kurz: Nordau begegnet in Sarah Hutzier einer modernen Frau, die in kei­nem Punkte dem Frauenbild entspricht, das ihn von Heim und Her­kunft her bedrängt, aber auch nicht dem vermeintlich fortschritt­licheren, das er mit biologistischen Argumenten in seinen Schriften entwirft. Das Ungewöhnliche dieser Frau mag ihn gerade fasziniert und angezogen haben, aber zu leben war diese Verbindung nicht, hätte sie ihm doch eine totale Veränderung nicht nur seines Le­benswandels und Haushaltes, sondern auch seines intellektuellen Selbstbildes aufgenötigt. Und das zu einem Zeitpunkt, als er voller Selbstbewußtsein und Selbstdisziplin daranging, seine eigene »na­turwissenschaftliche Weltanschauung« coram publico zu entwik- keln.

Wir können nicht einmal spekulieren, ob und inwieweit Nordaus