Liebe und Kabale
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rolle reduziert und die »Heiratslüge« als sozial und ökonomisch gebändigtes Sexualverlangen interpretiert, so kann es Nordau jedoch auch emotional unmöglich gewesen sein, mit der selbständigen, emanzipierten Sarah Hutzier zusammenzuleben, die nach ihrer Scheidung, durchaus ungewöhnlich bis skandalös für das bürgerliche juste milieu, 1886 den fünf Jahre jüngeren Schauspieler Josef Kainz heiratete. Umgekehrt kann es sein, daß Sarah Hutzier, von der keine Briefe an Nordau bekannt sind, nicht auf Nordaus Werben einging, weil sie die misogyne Abwertung des intellektuellen und künstlerisch-kreativen Vermögens von Frauen durch Nordau, seine Reden und Schriften von der mangelnden »Tiefe« und »Beständigkeit« der Frau nicht ertrug. Und Nordau drängte auf ein geordnetes, langfristiges Zusammenleben. Er will keine Affäre, will nicht »Episode« im Leben einer noch nicht einmal geschiedenen Frau und Mutter sein. Jegliche Art von Boheme war definitiv nicht Nordaus Sache. Er verkehrt in Künstlerkreisen, aber er ist selbst, dafür gibt es eine überwältigende Menge von Zeugnissen, ein ungeheuer disziplinierter Arbeiter mit streng geregeltem Tagesablauf.
In Sarah Hutzier begegnete Nordau, dessen häusliche Umstände erotische Affären allenfalls im Milieu des Montmartre oder auf Reisen erlaubten, einer beruflich wie intellektuell gleichrangigen Frau mit fast gleichem Lebensalter, selbständig, mehrsprachig und weitgereist, sichtbar weder eine höhere Tochter noch Jungfrau, ohne engere religiöse oder bürgerliche Bindungen und Familie. Kurz: Nordau begegnet in Sarah Hutzier einer modernen Frau, die in keinem Punkte dem Frauenbild entspricht, das ihn von Heim und Herkunft her bedrängt, aber auch nicht dem vermeintlich fortschrittlicheren, das er mit biologistischen Argumenten in seinen Schriften entwirft. Das Ungewöhnliche dieser Frau mag ihn gerade fasziniert und angezogen haben, aber zu leben war diese Verbindung nicht, hätte sie ihm doch eine totale Veränderung nicht nur seines Lebenswandels und Haushaltes, sondern auch seines intellektuellen Selbstbildes aufgenötigt. Und das zu einem Zeitpunkt, als er voller Selbstbewußtsein und Selbstdisziplin daranging, seine eigene »naturwissenschaftliche Weltanschauung« coram publico zu entwik- keln.
Wir können nicht einmal spekulieren, ob und inwieweit Nordaus