Liebe und Kabale
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stände zurück, die sein ganzes Denken erfüllten, auf die Geschlechtsmoral des Mannes und auf die dunkeln Erscheinungen des Seelenlebens. Er verfocht mit seiner gewohnten, fast gebieterischen Bestimmtheit den Lehrsatz, daß man vom Manne ebenso wie von der Frau Reinheit beim Eintritt in die Ehe fordern dürfe, und wollte meinen Einwand nicht gelten lassen, daß der Begriff der Reinheit beim Manne nicht dieselbe biologisch-anatomische Bedeutung habe wie beim Weibe. Eine eingehende Begründung meines Standpunktes verbot sich wegen der Anwesenheit meiner Schwester (...). Aus dieser Anschauung heraus entstand das Schauspiel >Der Handschuh'-, worin ein junges Mädchen mit ihrem Bräutigam trotz inniger Liebe zu ihm bricht, weil sie entdeckt, daß er keine unbefleckte Vergangenheit hat. ln dem Stück kommt ein Arzt vor, ein lebenserfahrener, weltkluger, reich gebildeter Mann, etwas skeptisch, sehr nachsichtig, allseitig wohlwollend, der der starren Moralistin das überspannte Köpfchen zurechtsetzen möchte. Diese Figur benannte Björnson zur Erinnerung an unsere Gespräche über das Thema des Stückes nach mir. Als der Dichter mir die Handschrift zeigte und ich meinen Namen im Personenverzeichnis erblickte, bat ich ihn bestimmt, seinen Arzt anders zu nennen. Er tat es widerstrebend und unvollständig. Er machte aus Nordau Nordan und so heißt der Arzt im >Handschuh < bis zum heutigen Tage. Nordau bedeutet in dichterischer Ausdrucksweise auf Norwegisch der Nordwind; >und darin ist auch etwas von Ihrer Art,< meinte Björnson lächelnd.
Der andere Gegenstand, der ihn ganz gefangen nahm, als er sich den >Handschuh< von der Seele geschrieben hatte, waren die dunklen Seiten des Seelenlebens, das weite, dämmerige Gebiet des Unterbewußtseins, die Hystero-Epilepsie, der Hypnotismus, die Suggestion, die damals im Mittelpunkt meiner eigenen Studien standen. Er wurde nicht müde, diese Fragen mit mir zu erörtern. Ich konnte ihm nie genug über sie sagen. (...) Ich führte ihn in die Salpetriere zu Charcot, der mir wohlwollte und nicht lange vorher mein >president de these< (Vorsitzender meiner Dissertation und Promotion) gewesen war. Ich machte ihn mit meinem armen Freund und Kollegen Gilles de la Tourette bekannt, dem Vorstand der Charcotschen Klinik, der später im Wahnsinn ster-