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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Liebe und Kabale

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stände zurück, die sein ganzes Denken erfüllten, auf die Ge­schlechtsmoral des Mannes und auf die dunkeln Erscheinungen des Seelenlebens. Er verfocht mit seiner gewohnten, fast gebiete­rischen Bestimmtheit den Lehrsatz, daß man vom Manne ebenso wie von der Frau Reinheit beim Eintritt in die Ehe fordern dürfe, und wollte meinen Einwand nicht gelten lassen, daß der Begriff der Reinheit beim Manne nicht dieselbe biologisch-anatomische Bedeutung habe wie beim Weibe. Eine eingehende Begründung meines Standpunktes verbot sich wegen der Anwesenheit meiner Schwester (...). Aus dieser Anschauung heraus entstand das Schauspiel >Der Handschuh'-, worin ein junges Mädchen mit ihrem Bräutigam trotz inniger Liebe zu ihm bricht, weil sie ent­deckt, daß er keine unbefleckte Vergangenheit hat. ln dem Stück kommt ein Arzt vor, ein lebenserfahrener, weltkluger, reich ge­bildeter Mann, etwas skeptisch, sehr nachsichtig, allseitig wohl­wollend, der der starren Moralistin das überspannte Köpfchen zurechtsetzen möchte. Diese Figur benannte Björnson zur Erin­nerung an unsere Gespräche über das Thema des Stückes nach mir. Als der Dichter mir die Handschrift zeigte und ich meinen Namen im Personenverzeichnis erblickte, bat ich ihn bestimmt, seinen Arzt anders zu nennen. Er tat es widerstrebend und un­vollständig. Er machte aus Nordau Nordan und so heißt der Arzt im >Handschuh < bis zum heutigen Tage. Nordau bedeutet in dichterischer Ausdrucksweise auf Norwegisch der Nordwind; >und darin ist auch etwas von Ihrer Art,< meinte Björnson lä­chelnd.

Der andere Gegenstand, der ihn ganz gefangen nahm, als er sich den >Handschuh< von der Seele geschrieben hatte, waren die dunklen Seiten des Seelenlebens, das weite, dämmerige Gebiet des Unterbewußtseins, die Hystero-Epilepsie, der Hypnotismus, die Suggestion, die damals im Mittelpunkt meiner eigenen Stu­dien standen. Er wurde nicht müde, diese Fragen mit mir zu erör­tern. Ich konnte ihm nie genug über sie sagen. (...) Ich führte ihn in die Salpetriere zu Charcot, der mir wohlwollte und nicht lange vorher mein >president de these< (Vorsitzender meiner Disserta­tion und Promotion) gewesen war. Ich machte ihn mit meinem armen Freund und Kollegen Gilles de la Tourette bekannt, dem Vorstand der Charcotschen Klinik, der später im Wahnsinn ster-