Teil eines Werkes 
1 (1912) Sagen
Entstehung
Seite
29
Einzelbild herunterladen

29

Flüchtling erkannte seinen Schimmel, der sich losgerissen hatte und ihm nachgeschwommen war. Eilig lief er über die Wiese und den Wall, der Schimmel dicht hinter ihm. Weil aber die Wache auf das wiederholte Anrufen keine Antwort erhielt, so gab sie von allen Seiten Feuer, und bald stürzten Mann und Pferd, von den Schüssen durchbohrt.

Seit jener Nacht wurden die Posten auf dem Wall nach Mitternacht, wenn kein Mondschein war, oft durch ein Plätschern im Wasser erschreckt. Dann sahen sie einen Schimmel über die Wiese hin und her laufen, ohne daß man seinen Hufschlag ver­nehmen konnte. Biele, die den Spuk recht nahe bei sich gesehen haben, versichern, der Schimmel habe keinen Kopf gehabt.

Karl von Reinhard (Sagen und Märchen aus Potsdams Vorzeit).

27. Die Bittschriftenlinde in Potsdam.

Friedrich der Große bewohnte die Eckzimmer im Potsdamer Schlosse nach der Teltower Brücke zu. Von hier aus hatte er die Aussicht auf die Havel und den Brauhausberg, und er übersah von seinem Schreibtisch aus mittels dreier Spiegel den Lust­garten, die Brücke und die ganze Umgebung des Schlosses. Unter dem Fenster zunächst der Brücke steht eine alte Linde, die noch jetzt die Bittschriftenlinde genannt wird, weil an ihr diejenigen ihren Standpunkt zu wählen pflegten, die ein Gesuch in die Hände des Königs zu bringen wünschten. Sah sie der König hier stehen, so schickte er gewöhnlich sogleich hinab, um ihnen die Bittschriften abnehmen zu lassen. Der Weg, Wünsche oder Klagen vor den König zu bringen, wurde aber nicht bloß von den Bewohnern der Stadt und ihrer Umgebung gewählt; aus den fernsten Teilen des Landes sah man unter dieser Linde die Bittenden in ihrer heimatlichen Tracht stehen und hoffend und fürchtend ihre Blicke zu den Fenstern des königlichen Arbeitszimmers hinaufrichten. Die halbverwachsenen Narben, die einige Fuß von der Erde ringsum in der Rinde des Baumes zu sehen sind, sollen von dem Pflücken und Zupfen herstammen, womit die Bittsteller in der Unruhe ihres Herzens den Stamm verwundeten.

An diese Linde hat sich nun ein schöner Volksglaube an­geschlossen. Wenn jemand nämlich um die Erfüllung eines