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Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher : Gedächtnisrede, gehalten in der Aula der Universität Marburg, 4. Juli 1918 / von Paul Natorp
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als die abgebrochenen Blumen und Zweige, die man dem Toten aufs Grab legt. Hat solche Symbolik einen Sinn, so kann es nur der sein, zu erinnern an das Geheimnis der ewigen Aus­saat und Erneuerung geistigen Lebens. Nicht das Sterben soll dadurch verschleiert, ein Nichtsterben vorgetäuscht, sondern das ewig neue Erstehen des Lebens aus dem Tode vergegenwärtigt werden. So hat Plato imGastmahl" die pflanzliche und tierische wie die geistige Fortzeugung uns verstehen gelehrt als nicht Unsterblichkeit, aber ewige Verunsterblichung des Sterb­lichen, und hat dadurch den Sinn des Lehrens und Lernens, den Sinn des echten Philosophierens gedeutet, als nicht toter Fort­überlieferung fertiger Weisheit, sondern immer neuer Erweckung lebendigen Erkenntnisstrebens. Das aber gilt für allen echten Gehalt des Lebens. Leben ist ewiges Sichselbstfortzeugen und dadurch Selbsterhaltung. Diesen tiefen Sinn legt Plato in das schlichte Wort Mneme, Gedächtnis. In solchem Sinne also wollen wir das Gedächtnis Hermann Cohens heute in uns er­neuern, des Menschen, des Lehrers, des Forschers, welches dreies eben unter diesem Gesichtspunkte der Mneme völlig eins wird.

Von dem Wesen eines Menschen zu sprechen, und wäre es der schlichteste, ist immer ein Wagnis. Wer dringt denn in den Andern wirklich ein? Wie will man ein Lebendiges auf Be­griffe bringen? Und solch Lebendigen! Denn daß er ein Un­gewöhnlicher war, mußte jeder empfinden, der ihm näher trat. So ungewöhnlich, daß es sich versteht, wenn eben dies Näher­treten nicht zu vielen gelingen wollte; daß er manchem auch in vieljährigem Zusammensein ein Fremder, ein ganz Unverständ­licher geblieben ist. Doch war er keineswegs ein einsiedlerischer Mensch, vielmehr anschlußbedürftig, lebendigen Austausch suchend, fordernd. Seit der unvergeßliche Friedrich Albert Lange den etwa Dreißigjährigen ermutigt hatte sich (im Herbst 1873) als Privatdozent hier niederzulassen und er schon nach kaum einem halben Jahr als einziger zum Nachfolger Weißen- borns vorgeschlagen wurde (er erhielt zwar nicht diese Professur, sondern zunächst ein Extraordinariat, aber kaum zwei Jahre