Druckschrift 
Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher : Gedächtnisrede, gehalten in der Aula der Universität Marburg, 4. Juli 1918 / von Paul Natorp
Entstehung
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Lebens-Abriß.

Hermann Cohen war geboren am 4. Juli 1842 in Coswig im Herzogtum Anhalt, wo sein Vater Lehrer der jüdischen Gemeinde war. Er besuchte die Stadtschule; ihr Rektor Julius Hoffmann, der frucht­bare Jugendschriftsteller, war ein liebenswürdiger Mann, für den der aufgeweckte Knabe manchmal Schule halten mußte, damit er seine Korrekturen lesen konnte. Mit ihm wie mit dem Kantor Hartung blieb Cohen auch später freundschaftlich verbunden. Nebenher lernte er bei dem Vater Hebräisch. Auch nachdem er mit 11 Jahren in das Gymnasium zu Dessau eingetreten war, wurde dieser Unterricht fort­gesetzt; der Vater besuchte ihn regelmäßig des Sonntags, um mit ihm von früh bis spät im Talmud zu lesen. Vier Jahre später kam Cohen in das jüdisch-theologische Seminar in Breslau, wo hervorragende Gelehrte wie Frankel, Bernays, Grätz, Joel lehrten. 1861 ging er zur Universität über, wo der Philosoph Braniß ihn anregte, der Phi­lologe Westphal u. a. ihm nahetraten. Eine Arbeit über die Psycho­logie des Plato und Aristoteles wurde preisgekrönt. 1863 siedelte Cohen nach Berlin über, wo Steinthal durch seine Forschungen zur Sprachpsychologie und vergleichenden Religionswissenschaft ihn fesselte. Auch hier versuchte er sich an einer Preisaufgabe über casus und t den contin gens bei Aristoteles. Seine Bearbeitung erhielt nich Preis, aber ein bezeichnendes Lob (ingenuo quo est philosophandi amore vulgaria spernet, edet autem maturiora. Das inge nuose luxuriare wird getadelt). Mit dieser Arbeit erwarb Cohen 1865 in Halle den Doktortitel. Er verbrachte dann noch mehrere Jahre in Berlin, indem er seine Studien besonders nach der Seite der Mathe­matik und Naturwissenschaft ausbreitete. Die Absicht sich dort zu habilitieren schlug fehl. Dagegen veranlaßte ihn der seit kurzem nach Marburg berufene F. A. Lange sich im November 1873 dort zu habilitieren. Bereits im nächsten Sommer wurde, da Weißenborn gestorben war, Cohen als einziger zum ordentlichen Professor vorge- schlaaen. Er erhielt zwar nicht diese Professur, aber zu Ostern 1875 ein Ertraordinariat, dann, im Januar 1876, das durch Langes Tod erledigte Ordinariat. Sein akademischer Vortrag galt in der ersten Zeit für fast hoffnungslos dunkel. Daher war der Kreis seiner Hörer an der ohnehin damals kleinen Universität nicht allzu groß. Doch wurden von Anfang an die Ernsteren gefesselt und zu eignem Ar­beiten angeregt. Mit der Zeit wurde auch fein Vortrag freier und zugänglicher, und von dem Eindruck seiner Persönlichkeit wurden auch sonst Fernerstehende angezogen und festgehalten. Besonders tiefe Wirkung erreichte er durch die seminaristischen Übungen, auf die er