Nachruf 163 des Ausbaus von Straßen, Windkraftanlagen und sonstiger Infrastruktur wollten wir möglichst keine Dunkelziffer zulassen, sondern jedes vorhandene Schreiadlerrevier kennen und schützen. Viele Hundert Stunden verbrachten wir dabei gemeinsam oder arbeitsteilig auf der Suche nach den Adlern; viele Stellen erinnern mich an gemeinsame Übernachtungen im„Busch“. Das Sommerhalbjahr war für ihn als bekennenden Familienmenschen wohl stets eine Gratwanderung. Die akustischen Aufnahmen, die Kai im Laufe der Jahre fertigte, zeigten die Variabilität der Stimmen alter und junger Schreiadler. Über seine Fotos ließen sich Farbringe ablesen und auch unberingte Vögel anhand individueller Merkmale über Jahre identifizieren. Über den Schreiadler entstanden auch Kontakte nach Lettland und Polen. Eine Episode im Osten Lettlands erinnert mich noch heute an den verschmitzten Humor von Kai: Beim Sprung in ein eiskaltes Moorloch nach einem extrem heißen Tag fragte ich den Professor der Tierphysiologie:„Ist das eigentlich gesund, was wir hier machen?“. Die Antwort lautete:„Es ist sogar sehr gesund – wenn man es überlebt“. Im Jahr 2004 startete das sog.„Jungvogelmanagement“ in Brandenburg, die künstliche Erhöhung der Reproduktion, indem der zweitgeborene Jungvogel vor dem arteigenen Kainismus bewahrt, in Menschenhand aufgezogen und später ausgewildert wird. Hier gehörte Kai von Anfang an zum“harten Kern“,verbrachte noch mehr Zeit in den Wäldern und war bei der Horstsuche, bei theoretischen Überlegungen, Tiertransporten, Auswertungen, Dokumentation usw. immer in der ersten Reihe dabei. Seine Zähigkeit und Fitness waren dabei bemerkenswert; noch mit 85 Jahren berichtete er von einem achtstündigen, heißen Tag zu Fuß in mehreren Adlerrevieren, an dem er nach der Rückkehr zu seinem Auto noch einen platten Reifen wechseln musste. So etwas trug er nicht fluchend vor, sondern mit einem Lächeln.Als ich ihm in den märkischen Funklöchern einmal vergeblich hinterher telefonierte, landete ich am Festnetz bei seiner verständnisvollen Frau Renate und fragte, ob Kai denn verlorengegangen sei. Sie antwortete:„Weißt Du, selbst wenn das so wäre, wäre er immer noch glücklich in seinem Adlerwald.“ Es schien kein Zweifel daran zu bestehen, dass Kai Graszynski mindestens hundert Jahre alt wird; sein Vater hatte immerhin 99 Jahre geschafft. Völlig überraschend laborierte er aber Anfang 2022 an mehreren Krankheiten, nachdem er noch im Dezember bei anscheinend bester Gesundheit an der gemeinsamen Auswertung des Schreiadlerjahres teilgenommen hatte.Im April fuhr er sogar noch einmal selbständig zu seinen geliebten Adlern. Er wollte sie wohl noch einmal sehen nach ihrer Rückkehr aus Afrika. Die Jungvögel dieses Jahres hat er leider nicht mehr erlebt. Wir werden ihn als großartigen Menschen, herzensguten Freund und tollen Mitstreiter beim Schutz unserer Schreiadler in Erinnerung behalten. Unser Mitgefühl ist bei seiner lieben Frau Renate und den Kindern und Enkeln. Torsten Langgemach
Heft
(2022) 29
Seite
163
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