Heft 
Sonderheft 1, Zeitbilder: Zwei Fragmente von Theodor Fontane "Sidonie von Borcke" und "Storch von Adebar"
Seite
66
Einzelbild herunterladen

heit näher zu kommen oder das Beste um der Sache willen zu leisten, ob es zeitlich weiter bringt oder nicht. Ein Schullehrer, der all sein Leben und Denken der Pädagogik widmet, ohne an ein Hinaustreten aus dieser gesellschaftlich so bescheidenen Stellung, noch auch an ein Geldmachen aus derselben zu denken, ist in Frankreich eine rarissima avis. Nur die geistlichen Orden mit ihrer Disziplin vermögen es, selbstlose Schullehrer in genügender Zahl für Frankreich zu stellen. Sie besitzen auch allein in der Aussicht auf den Genuß des von den Päpsten ihnen verliehenen Ablasses usw. einen Ersatz für die zeitlichen Güter, die in Frankreich wie überall dem Lehrerstande versagt sein werden, der das Glück seines Lebens in der idealen Aufgabe finden muß, sich vorzugsweise mit geistigen Dingen zu be­schäftigen. Der Deutsche hat dazu von Natur eine Anlage. Er ist der geborene Schulmei­ster. Der wesentlich auf zeitliche Güter und äußeren Lebensgenuß gerichtete Sinn des Franzosen hindert ihn, jemals ein echter Schulmeister zu werden. Also selbst wenn die Ferrvschen Entwürfe angenommen werden, liegen im französischen Volkscbarakter Mo­mente, welche die Durchführung des Laien-Unterrichts sehr erschweren, wenn nicht völlig unmöglich machen.

Zum Schluß ein Wort aus Luthers Tischreden, von dem wir wünschten, daß es die Ge­sinnung des deutschen Lehrers für immer charakterisierte: »Die Arbeit eines Schulmeisters ist groß und man hält sie geringe. Es ist aber so viel in einer Stadt an einem Schulmeister gelegen, als an einem Pfarrherren. Und wenn ich kein Prediger wäre, so weiß ich keinen Stand, den ich lieber haben wollte. Man muß aber nicht sehen, wie es die Welt verlohnet und hält, sondern wie es Gott achtet und an jenem Tage rühmen wird.«

Leider aber scheint auch im Lehrerstande Deutschlands in neuerer Zeit der materielle Sinn um sich zu greifen, der auf möglichst bequemen Lebensgenuß gerichtet ist. Sollte dies damit Zusammenhängen, daß man auch bei uns Kirche und Schule immer mehr ausein­anderreißt?

Der Selbstmord und die großen Städte

Am z. Vereinsabend des Stadtvereins für innere Mission zu Dresden hielt der durch sein treffliches Werk über Moralstatistik bekannte Professor A. v. Oellingen aus Dorpat einen Vortrag, in welchem er die wissenschaftliche Statistik in ihrer Anwendung auf die kran­kende Volksseele vorführte. In diesem Vortrage behandelte v. Oettingen aus Anlaß des vielgenannten Werks von Pastor Stursberg die durch Beobachtungen festgestellte Tat­sache, wie die letzten Jahre eine das sittliche Leben untergrabende Macht der Gesamtsitte, eine epidemische Verwahrlosung aufweisen. Der Vortragende verwertete insbesondere die Statistik des Königreichs Sachsen zu lehrreichen Beispielen. Von dem vielen Schönen, was Herr v. Oettingen gesagt, entnehmen wir nur eine einzige, von einem der schrecklichsten Symptome der kranken Volksseele handelnde Stelle seinem Vortrage.

Tiefe, furchtbare Schatten wirft die Selbstmord-Statistik, bemerkte der Redner, die tief­sten. furchtbarsten in unser Sachsenland. Mit Grauen erregender Regelmäßigkeit steigen seit 1871 die Zahlen. In Dresden mit seiner jährlichen Durchschnittszahl von 80 Selbst­mördern kommen nicht weniger als 420 auf die Million Menschenleben, während Peters­burg dieser Zahl nur 150, Wien 247, Berlin 280-300 gegenüberstellen kann. Paris freilich ergibt 500-600 Fälle, so daß von dem kleinen Stück Seine, welches die Hauptstadt Frank­reichs bespült, mehr Menschenleben gefordert werden, als der ganze übrige Flußlauf, was sich glücklicherweise vom Dresdener Elbfragmente nicht behaupten läßt. Nichtsdestoweniger wütet der Selbstmord mit der bei weitem furchtbarsten Gewalt in Sachsen; selbst das lange Zeit mit konkurrierende Dänemark hat seit 1873 die unglückselige Rivalität aufgeben müs­sen; denn während bei uns die Selbstmorde mit grausiger Stetigkeit von 257 ««/steigen, fallen sie ebenso stetig in Dänemark seit 1871 von der Zahl 276 herab. »In Sachsen auf der ganzen weiten Gotteserde mordet man sich am meisten.« Und als ob Sachsen den Fluch der bösen Tat ganz und voll weiter tragen müsse, so schreitet von diesem »Zentrum des Selbstmordes« die furchtbare geheime Macht der Ansteckung über die Grenzen hinüber