Heft 
(1970) 11
Seite
215
Einzelbild herunterladen

Buchbesprechungen

Theodor Fontane,Mir ist die Freiheit Nachtigall". Politische Lyrik. Gelegen­heitsgedichte. Späte Spruchdichtung.

Ausgewählt und mit einem Nachwort von Helmuth Nürnberger unter Mitwir­kung von Otto Drude. Walter Braun Verlag, Duisburg 1969.

Walter Keitel legte 1964 im Rahmen der Hanser-Ausgabe die bisher umfas­sendste Sammlung Fontanescher Lyrik vor. Dieser außerordentlich verdienst­volle Band 6, der über 200 unbekannte Gedichte erstmals zugänglich machte, wird bei aller Problematik der Textdarbietung im einzelnen für die For­schung auch in den nächsten Jahren unentbehrliche Arbeitsgrundlage bleiben (obwohl schon heute bekannt ist, daß rund weitere 150 unveröffentlichte Ge­dichte existieren). Der Fontane-Normalverbraucher" freilich, der Leser, der den weithin vergessenen Lyriker im Schatten des Romanciers erst entdecken will, wird ein wenig ratlos vor der 850-Seiten-Fülle stehen. Im unvermeid­lichen Nebeneinander von Gelungenem und Schwachem, von Gültigem und Beiläufigem kann Wesentliches versteckt, können Entwicklungslinien leicht ver­wischt werden. Als ausgezeichnete Ergänzung zu der genannten Gesamtedition, als origineller Versuch, den Lyriker Fontane mit seinemEigentlichen" vor­zustellen, darf daher die Auswahl von Helmuth Nürnberger und Otto Drude gewertet werden. Die Herausgeber räumen rigoros mit überkommenen Vor­urteilen auf, setzen neue, richtige Akzente und werden dem Dichter zweifellos neue Freunde gewinnen. Zu Recht wurden die Balladen gänzlich ausgeklam­mert; im Mittelpunkt steht vielmehr die politische Lyrik der vierziger Jahre und die des ganz alten Fontane. Dazwischen sind alsVerbindungsglieder" Gelegenheitsgedichte und Übersetzungen aus dem Englischen gruppiert, bei denen Verse der frühen englischen Arbeiterdichtung dominieren. Nürnberger will damit auch im Bereich der Gedichte die oft unterschlagenen oder bagatel­lisierten Gemeinsamkeiten zwischen dem jungen und dem alten Fontane dokumentieren und zugleich nachweisen, daß, wie er in seinem überaus an­regenden Nachwort schreibt,Fontanes Lyrik ihrer innersten Natur nach kri­tische Lyrik ist". Was die Herausgeber unter diesem Aspekt zusammengestellt haben, darf weitgehend zu dem (nach meiner Meinung) schmalen Bestand des wirklich Bleibenden in der Fontaneschen Lyrik gerechnet werden. Zweifellos zählen dazu auch einige aus dem guten Dutzend Gedichten, die hier erstmals nach dem Abdruck in derEisenbahn" (1840/41) wieder publiziert werden und den Reiz des vorliegenden Bandes nicht unbeträchtlich erhöhen. Den Anmer­kungen, die sich im wesentlichen auf bibliographische Angaben sowie auf Hin­weise zur Entstehungszeit beschränken undden Stellenwert der Gedichte in Fontanes literarischer Entwicklung wenigstens anzudeuten" versuchen, hätten dei dem (im besten Sinne) populären Charakter des Bandes zusätzliche sach­liche Erläuterungen gut angestanden.

Gotthard Erler, Berlin