Heft 
(1971) 12
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,Das Englandmotiv im ,Stechlin erfüllt eine rein künstlerische Funktion. So ist das Englandbild, das sich hier abhebt, im wesentlichen positiv, weil es das Symbol einer freieren, fortschrittlicheren, zivilisierten Gesell­schaft mit der Enge und Rückständigkeit der märkisch-preußischen Welt konstrastiert wird' 7 .

Wenn wir also das Gesamtwerk Fontanes betrachten und dabei sein schriftstellerisches Verhältnis zu England bzw. zur englischen Gesellschaft berücksichtigen, dann läßt sich ein Gesinnungswandel feststellen, ein Gesinnungswandel, der uns nicht ganz gleichgültig lassen darf. Gerade die Gesellschaftskritik nämlich, die Fontane zunächst gegenüber England zum Ausdruck bringt, und die er später zum größten Teil zurücknimmt, wird nun auf seine Behandlung der preußischen Gesellschaft übertragen. Oder, wie Charlotte Jolles schreibt, ,es ist vor allem der zeitkritische Gehalt in diesem Werk und in den Korrespondenzen, der die Beziehung zu seinen späteren Romanen herstellt 8 . Oder wiederum, wie Derek Barlow, der vom ,distorted character 9 der Vergleiche Fontanes zwischen Deutschland und England spricht, schreibt: ,1t is indeed ironical that Fontane was later to portray in his novels the misery and unhappiness which the rigid Prussian castesystem could impose upon the individual who proved bold enough to fl out its coventions 10 .

Wie ist also dieser Gesinnungswandel zu erklären? Freilich gibt es mehrere Gründe für dieses Phänomen, die nicht nur im Bewußtsein Fontanes, sondern auch in der Entwicklung Englands selbst zu erkennen sind. Uns geht es primär darum, den Zusammenhang zwischen einem Aspekt der Erfahrungen, die Fontane in England gemacht hat, und der in seinem Werk zum Ausdruck gebrachten Reflexion über solche Erfah­rungen, bzw. wie wir zu zeigen haben, den Mangel an Erfahrungen zu verdeutlichen.

Zuerst bedarf es der Klärung, wie es überhaupt mit seiner ursprünglichen Kritik gegen die englische Gesellschaft stand. Gerade zu dieser Frage hat Charlotte Jolles uns einen wichtigen Hinweis gegeben, indem sie darauf hinwies, daß es sich bei den beiden sehr kritischen Aufsätzen ,Das goldene Kalb 1 und ,Smithfleld zum größten Teil um wörtliche Übersetzungen von Bücherrezensionen aus der Times handelt. Hierüber kommentiert Nürnberger treffend: Merkwürdigerweise handelt es sich dabei um Texte, die bisher als besonders bezeichnend für Fontanes England-Bild und seinen damaligen Prosastil galten 11 . Wir haben also das eigenartige Phänomen, daß Fontane die Engländer mit ihrer eigenen Kritik selbst kritisiert! Diese Frage läßt sich sehr wohl stellen, inwiefern Fontane überhaupt selbst über die Gesellschaft im Bilde war, die er etwas polemisch angriff, oder ob die Vehemenz seiner Kritik nicht mit der Optik, aus der Fontane England beobachten konnte, zusammenhing. Gerade die Verbindung zwischen der Sicht, aus der Fontane England sah, und der Art seiner diesbezüglichen Schriften macht Nürnberger sichtbar, wenn er die Schriften des Fürsten Pückler-Muskau und C. G. Carus mit denen Fontanes vergleicht. Er bringt die Tatsache vor, daß Fontane sich in einer ganz anderen gesellschaftlichen Lage befand, denn

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