Ähnliche Kritik enthält auch sein Brief vom 13. März 1895 über „Von Perlin nach Berlin“.
Neue Gesichtspunkte treten auch in der Besprechung der „Vorstadtgeschichten“, die Fontane nicht, wie Seidel schon in einem Brief vom 8. September 1875 9 bat, in der ersten Auflage rezensierte, nicht hinzu. Fontane schätzt den Schriftsteller Seidel als ein „schönes Talent“, das er mit Recht „zur Schule Storm“ rechnete, „vielleicht als der echteste und beste Schüler des Husumer Meisters“. Storm, aber auch Mörike und Klaus Groth sieht Fontane als Vorbilder und literarische Verwandte Seidels an in einer Besprechung der Gedichtsammlung „Winterfliegen“. Vossische Zeitung Nr. 342 vom 9. Dezember 1880; um diese Rezension hatte Seidel ausdrücklich in einem Brief vom 1. Dezember nachgesucht, damit er als empfohlener Autor nicht das Weihnachtsgeschäft versäume. 10 Fontane erfüllte die Bitte und schrieb locker, schwungvoll, wenn auch ohne Engagement, es seien „stille Sachen“, aber auch „vereinzelte Gedichte, die überleben werden“ :
„Winterfliegen. Neue Gedichte von Heinrich Seidel (Berlind, Friedrich Luckhardt, 1880). Es ist nicht das erste Mal, daß ich an dieser Stelle Heinrich Seidel’scher Dichtung erw'ähne. Und ihrer Erwähnung thun, heißt auch zugleich sie dem Publikum empfehlen. Es sind nicht Sachen, die Lärm machen, im Gegentheil, sie treten still auf. aber gerade hierin liegt ihr Reiz und ihre Bedeutung. Sie haben jene Stille, die langsam und unbemerkt erorbert, aber sicher und bleibend. Wenn Unzähliges, was sich jetzt laut macht, verschwunden sein wird, als hätt’ es nie gelebt, werden einzelne dieser Gedichte noch gekannt sein und unserer gegenwärtigen Lyrik eine verspätete Huldigung eintragen. Ich sehe schon die Professoren aus der Volkslied-Schule, die vor aufhorchenden Ohren nachweisen, ,wie fein und eigenartig die Sprache behandelt und wie richtig der Ton getroffen sei“. Diesen Zukunftsstimmen möcht’ ich durch ein paar freundliche Worte zuvorkommen. Beanstandenswerth an der kleinen Sammlung ist eigentlich nur ihr Titel: ,Winterfliegen.“ Fliegen sind nie schön, am unschönsten aber sind Winterfliegen. Und gerad’ unter dieser Bezeichnung hat der. in seiner Bescheidenheit bis zur Ungerechtigkeit und Grausamkeit gehende Lieder-Vater, seine Kinder in die Welt geschickt. In dieser, durch Schuld des Titels, in unsrer Vorstellung wenigstens gegebenen Aschenputtelhülle, stecken aber lauter goldpantoffelte Prinzessinen, am reichsten und schönsten im ersten Drittel des Buches. Gedichte wie: Das Lesen; die Glocken; die Kapelle; Auf ewig; Glocken-Kanonen—Glocken; die Haide; der alte Backofen; Sommerabend; die Elfe; wo wohnt das Glück, — und manch andre noch, schließen sich dem Besten ebenbürtig an, was Mörike, Storm, Klaus Groß gedichtet haben. Es wirkt freilich manches wie Nachklang, wie durch einen voraufgegangenen Genius inspirirt, aber dieser Eindruck mindert sich, je länger man sich mit ihnen beschäftigt. Und wenn auch ein verwandtschaftliches Element bleibt.