Heft 
(1973) 17
Seite
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Doch ruft diese Methode des Verschweigens eine gegenteilige Wirkung hervor und unterstreicht nur die Bedeutung dessen, was breit auszumalen Fontane widerstrebte. Verlobung und Liebesbeziehung der Heldin unter­scheiden sich an und für sich in nichts von hundert anderen Verlobungen und Liebesgeschichten, deren Schilderung in vielen zeitgenössischen Ro­manen bereits zur Schablone erstarrt war. Fontane gibt dem Leser die Möglichkeit, selbst zu Ende zu denken, was er bewußt ausließ. Er nennt die Geschehnisse nur, beleuchtet sie aber nicht im einzelnen. Darin liegt etwas, das wir in den Bereich des Dramatischen verweisen möchten. Nicht umsonst war Fontane ständiger Zuschauer der Berliner Premieren, ein Kenner dramaturgischer Lösungen, ein Theaterkritiker. Die Technik des Dramas ist fast in allen seinen Romanen herauszuspüren: erstens haben sie in der Regel keine fesselnden Sujets, so daß die Aufmerksam­keit des Lesers nicht auf die Fabel, nicht auf die Entwicklung der Hand­lung gelenkt wird. In gewisser Hinsicht kann man sogar sagen, daß einige von Fontanes Romanen, wie z. B.Der Stechlin,Die Poggenpuhls und Stine, ganz ohne Sujet sind. Was sich in ihnen vollzieht, sind dem Leben entnommene Ausschnitte. Man kann also von einem Einfluß des naturalistischen Dramas (in dem das Sujet eine zweitrangige Rolle spielt) auf Fontanes Romane sprechen. Zweitens geschieht die Enthüllung der Charaktere meistens nicht durch den Autor, sondern durch das Mittel des inneren Monologs; mitunter decken auch Dialoge den seelischen Zu­stand des Helden auf.Effi Briest ist im Vergleich zu anderen Romanen reich an Sujet; die Komposition ist gut aufgebaut, doch sind Sujet und Komposition der Hauptaufgabe untergeordnet, eine möglichst tiefgehende Enthüllung der Charaktere zu erzielen. Die Technik des Schreibens war für Fontane niemals Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Erfüllung der selbstgestellten Aufgabe, dem Leser seine Gedanken und Erkenntnisse nahezubringen.Effi Briest ist ein überzeugender Beweis, daß er sein Ziel erreicht hat.

Fontane war einer der Lieblingsschriftsteller Thomas Manns. In seinem ArtikelDer alte Fontane (1910) schrieb er:Das Schauspiel, das der alte Fontane bietet, dies Schauspiel einer Vergreisung, die künstlerisch, geistig, menschlich eine Verjüngung ist, einer zweiten und eigentlichen Jugend und Reife im hohen Alter, besitzt in der Geistesgeschichte nicht leicht ein Gegenstück ... Er war geboren, um der ,alte Fontane 1 zu werden, der leben wird; die ersten sechs Jahrzehnte seines Lebens waren, bei­nahe bewußt, nur eine Vorbereitung auf die zwei späten, gütevoll skep­tisch im wachsenden Schatten des letzten Rätsels verbrachten; und sein Leben scheint zu lehren, daß erst Todesreife wahre Lebensreife ist. 17

Der Fontane der neunziger Jahre ist ein gereifter, durch Erfahrung weise gewordener Meister des Wortes. Er war um einen Kopf größer als seine schriftstellernden Zeitgenossen nicht nur, weil er sich aktuellen Fragen der deutschen Wirklichkeit zu Ende des 19. Jahrhunderts zuwandte, son­dern auch, weil er neue Mittel zur Darstellung dieser Wirklichkeit fand. So wurde er zu einem echten Neuerer in der Literatur seiner Zeit.