Der Platz war gut gewählt, und liegend begann die Sitzung. Ein Protokoll war nicht vorhanden, als Tages- und Gelegenheitsdichter florierte nur Schenkendorf. Nach der Melodie von „O Schill, dein Säbel tut weh“ sangen wir den jedesmaligen Refrain, daß den Vögeln die Ohren weh taten. Nachdem auch noch Lessing, Hölty und Petrarca kleine Sachen, wiewohl nichts Gelegentliches, vorgetragen hatten, entschied man sich mit Einstimmigkeit für Rückzug und — Mittagbrot. Dies ward eingenommen und genügte bescheidnen Ansprüchen. — Der Nachmittag kam. Das Beste, was man von ihm sagen kann, ist: daß er auch wieder ging. Es lief allmählich ein dumpfes Gemurmel, und der Finkenkruger Kaffee war nicht angetan, das erwachende Heimweh in ihm zu ertränken. Wer jenen irdenen Hexenkessel gesehn hat, in dem das schnödeste Zichorienwasser brodelte, mit dem jemals die Gaumen einer Berliner Landpartie traktiert wurden, wird sich entsinnen, daß man in den Quantitäten ertrinken, in der Qualität aber auch nicht die kleinsten Leiden des menschlichen Daseins ertränken konnte. Gegen halb 9 Uhr brauste endlich die erlösende Lokomotive heran; welchen Namen sie auch führen mochte, für uns hieß sie „Rettung“, „Freiheit“. Bei allem Dankgefühl gegen das Frische und Frohe des Tages schieden wir mit der nicht ausgesprochenen, aber in aller Augen liegenden Versicherung, daß es des Guten zu viel gewesen sei. Nur das Maß hat und wahrt den Genuß.
[Lafontaine]
Kommentar
Von Mai bis Oktober eines jeden Jahres pflegte der „Tunnel“ eine Sitzungspause einzulegen. Man traf sich in diesen Monaten höchstens in Berliner Gartenlokalen, um zu plaudern (z. B. im Stadtteil Moabit oder im Tiergarten). Diesmal bestand der „Sommertunnel“, d. h. die Sommerveranstaltung des Vereins (nicht nur der Verein selbst hieß „Tunnel“, sondern auch seine Zusammenkünfte) aus einem Ausflug, zu dem August Müller (Emst Schultze), Rendant der Berliner Charite, eingeladen hatte. Müller hatte sich dabei der Charite-Boten bedient (den Fontane in seinem Brief an Bernhard von Lepel vom 4. 7. 1851 als den „Rotkragen aus der Charite, mit Stock und Blechschild“ bezeichnet und der ihm „exekutorhaft“ vorkam 19 ).
Man traf sich auf dem an der Invalidenstraße gelegenen Hamburger Bahnhof (jetzt Westberlin), in dessen Gebäude später (1906) das Verkehrs- und Baumuseum eingerichtet wurde. Ziel der Fahrt, die an den Rehbergen und Spandau (jetzt Westberlin) vorbeiführte, waren der Brieselang, ein herrlicher Laubwald im Nordwesten Berlins, und der darin gelegene Finkenkrug, eine 1777 gegründete, damals sehr beliebte Ausflugsgaststätte, die heute nicht mehr existiert. (Der Finkenkrug wird von Fontane mehrfach erwähnt, z. B. im letzten Kapitel von „Stine“, wo es heißt: „Und nächsten Sonntag ist Sedan, da machen wir auf nach’n Finkenkrug un fahren Karussell un würfeln.“) —