Lichen Hause, darinnen ihr so viel Liebe und so viel Leid widerfahren war, und sehn sie schließlich an den Ufern der Seine als Magd einer Fischer- und Fährmannsfamilie, ihrem Dienste lebend und ihrem — Haß. Inzwischen steigt die Revolutions-Flut höher und höher, und das berühmte „Schaumspritzen ihrer Wogen“ fängt allgemach an, auch für den jungen Grafen Etienne unbequem zu werden. Die Gironde ist hin, jede Stunde droht auch seinem Halse Gefahr, und er beschließt zu fliehn. Aber wie? Die Banden von Lyon halten alle Tore und Ausgänge besetzt, so bleibt ihm nur ein Ausweg — Flucht über die Seine, und zwar im Schutz der Nacht. Er springt ins Boot; es ist Urika, die ihn fährt. Sie erkennt ihn, aber er nicht sie. Mitten auf dem Strom sperren Fackelboote, vollgestopft von Marat’schem Gesindel, den Weg; als einzelne jedoch die Urika, die fanatische Feindin alles Adels, erkennen, will man dem Fahrzeug die Durchfahrt gestatten. „Die schwarze Hexe“, so schallt es herüber, „wird keinem Aristokraten aus der Schlinge helfen; aber wer’s auch sei, der auf der Bank dort kauert, zuerst: ein Hoch auf die Republik und dann einen Kuß auf die roten Mohrenlippen“. Todesangst läßt den Etienne gehorchen, er ruft sein „Vive la republique!“ und nähert sich jetzt der Urika, um sie zu umfangen und den geforderten Kuß auf ihren Mund zu drücken. Das ist der Retterin zu viel, sie stößt ihn zurück und entscheidet dadurch über sein Geschick. Zu spät erkennt sie, was sie getan, vergebens schlägt sie einen der vordringenden Republikaner nieder, man bemächtigt sich beider, und Etienne verblutet unter dem Beil der Guillotine.
Urika lebt — sie lebt, weil der Henker sich weigert, eine Schwarze sterben zu lassen. Sie erlebt das Kaiserreich und seinen Glanz, aber sie hat kein Auge dafür; sinn verwirrt und bettelnd sitzt sie am Pont Neuf und murmelt zwei Worte: Egalite und Lüge.
Nach beendeter Vorlesung der Dichtung herrschte minutenlang jenes dumpfe Schweigen, bei dem der erwartungsvolle Vorleser aus der Haut fahren möchte. Man sieht eine schwarze Wolke über sich und weiß nicht recht, was hervorbrechen wird — die Sonne oder der Blitz. Endlich ward es lebendig im Kreise, und über „Urika“ ging die Sonne auf. Das Pikante des Stoffs, die meisterhafte Behandlung der überaus schwierigen Strophe sowie eine Fülle von Einzelheiten, unter denen namentlich die Beschreibung der Fest-Quadrille und die Flucht Urikas hervorzuheben sind, fand überall freudige Zustimmung; ebenso einig war man über die Unzulässigkeit der Schlußszene, von der namentlich Lessing geltend machte, daß sie völlig aus dem Tone falle. — Eine Bemerkung Lafontaines, daß die Intention des Dichters verfehlt schiene, indem die Katastrophe nicht durch das Negertum Urikas, sondern ganz einfach dadurch herbeigeführt werde, daß Etienne seine Adoptivschwester zwar verehre, aber nicht liebe — diese Bemerkung ward teils unterstützt, teils angegriffen, bis der Dichter selbst weitre Debatten darüber durch die Ankündigung abschnitt, daß er sein Gedicht — mit Zustimmung des Tunnels — nach 4 Wochen noch einmal vorzulesen gedenke. Bis dahin ward auch das Endurteil sistiert.