Gerhard Friedrich (Heidelberg)
Die Witwe Pittelkow
Wenn schon nicht die Entstehungsgeschichte der „Stine“ selbst, so ist doch zumindest der Bericht Fontanes von dieser Entstehungsgeschichte in seinem Brief an Theodor Wolif vom 28. 4. 1890 einigermaßen rätselhaft. In diesem Brief versichert Fontane, er habe mit „Stine“ etwa 1885 begonnen und sei dabei vorgedrungen „bis zu dem Hauptkapitel, wo der alte Graf und die Pittelkow in dem ,Untätchen‘-Gespräch aufeinander- platzen.“ 1 Nach Ausweis seines Tagebuchs aber hat Fontane „Stine“ bereits im Dezember 1881 im Brouillon abgeschlossen und schon im März 1882 mit Joseph Kürschner eine erste Abmachung über den Druck von „Stine“ getroffen. 2 Daß Fontane die frühe Entstehung der „Stine“ vergessen haben könnte, darf als ausgeschlossen gelten; warum er sie Wolff, dem Chefredakteur des „Berliner Tageblattes“, unterschlug, darüber sollen hier keine Vermutungen angestellt werden. Auffällig ist der Vorgang allerdings insofern, als die Tendenz des Fontaneschen Briefes dahingeht, mit der komplizierten Entstehungsgeschichte von „Stine“ und „Irrungen, Wirrungen“ gewisse Schwächen der später veröffentlichten „Stine“ zu erklären: „Diese vielen Pausen und Zwischenschiebereien sind schuld, daß sich manches wiederholt. Am deutlichsten tritt dies bei den Ulkereien mit den Namensgebungen hervor. Sarastro, Papageno, Königin der Nacht, das war, glaub’ ich, ein ganz guter Einfall, den wir auf 1885 oder vielleicht etwas früher festsetzen können. Als ich nun Ausgangs 1886, also nach mehr als anderthalb Jahren, wieder .Irrungen, Wirrungen' aufnahm und fertig machte, hatte ich meinen Sarastro usw. ganz vergessen und machte nun den Witz noch mal, indem ich der ganzen Demimondegesellschaft die Namen aus Schillers .Jungfrau' gab. Hätte ich den Sarastro noch im Gedächtnis, so hätte ich das vermieden. Und so ist es mit vielen andern Einzelheiten. Es ließ sich aber nicht mehr herausschaffen.“ Je komplizierter (und also wahrer!) Fontane den Sachverhalt dargestellt hätte, umso überzeugender wäre seine „Verteidigung“ gewesen. Warum verzichtete er darauf?
Wie dem auch sei, der Brief macht bereits von der Entstehungsgeschichte her die enge Zusammengehörigkeit der beiden Romane einsichtig. Es nimmt deshalb nicht wunder, daß Fontane sie von vornherein auch in anderen Briefen zusammen nennt und aneinander mißt, so in einem Brief an Emil Dominik: ,„Stine' ist das richtige Pendant zu .Irrungen, Wirrungen', stellenweise weniger gut, stellenweise besser. Es ist nicht ein so breites, weite Kreise umfassendes Stadt- und Lebensbild wie .Irrungen, Wirrungen', aber an den entscheidenden Stellen energischer, wirkungsvoller. Die Hauptperson ist nicht Stine, sondern deren ältere Schwester: Witwe Pittelkow. Ich glaube, sie ist eine mir gelungene und noch nicht dagewesene Figur.“ 3 Klingt dieses Doppelurteil noch so, als verteile Fontane seine Sympathie gleichmäßig auf beide Romane, so setzt der etwa ein halbes Jahr später an Paul Schlenther geschriebene Brief die Akzente schon anders, wobei Fontane offenkundig gewisse Ein-