Heft 
(1974) 18
Seite
110
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wände Schienthers gelten läßt:Stine, als Figur, bleibt weit hinter Lene zurück, und da sie die Hauptheldin ist und dem Ganzen den Namen gibt, so hat das Ganze mit darunter zu leiden. Davon wäscht mich kein Regen ab, und auch der Umstand, daß die Pittelkow und der alte Graf Haldern zu den besten Figuren meiner Gesamtproduktion gehören, kann die Sache nicht wieder ins gleiche bringen. Ich habe dabei nur einen Trost: je länger ich lebe, je klarer wird es mir, es ist auch gar nicht nötig, daß einem ein Ding in allen Teilen geglückt. Es ist nur wünschenswert. Geht dieser Wunsch aber nicht in Erfüllung, und dies ist die Regel, ... so muß man schon zufrieden sein, wenn dem mühe- und liebevoll Geschaffenen die Existenzberechtigung zugesprochen wird. Das ist schon sehr viel, und dies habe ich ja auch mit meiner Stine erreicht. 4 Dieses rasche Zurück- weichen Fontanes vor der Kritik Schlenthers ist umso verständlicher, wenn man bedenkt, daß Fontanes innere Einstellung zu den beiden Werken von Anfang an differierte: Ein Urteil wie das überIrrungen, Wirrungen ist überStine nicht erhalten. Über das zuerst veröffentlichte Werk hatte Fontane geschrieben: ... wer hat jetzt Lust und Fähigkeit, auf die hun­dert und, ich kann dreist sagen, auf die tausend Finessen zu achten, die ich dieser von mir besonders geliebten Arbeit mit auf den Lebensweg gegeben habe. Auch in späteren Briefen hat Fontane an seiner kritischen Einstellung gegenüberStine festgehalten und sein Urteil noch präzi­siert:Lene ist berlinischer, gesünder, 6 sympathischer und schließlich auch die besser gezeichnete Figur. Auf die Frage Lene oder Stine hin angesehn, kann ,Stine' nicht bestehen. Darüber habe ich mir selber keine Illusionen gemacht. 7 In der Tat wird kein Leser der beiden Werke die Richtigkeit des Urteils von Fontane bestreiten. Unter den in den 80er Jahren entstandenen Gesellschaftsromanen stehtIrrungen, Wirrungen künstlerisch an der Spitze. Der Konsens der Interpreten, von Fontane eingeleitet, ist unübersehbar und soll hier auch nicht in Frage gestellt werden. Eines nur ist zu bedenken: Fontane hat so viele Entwürfe liegen­lassen, fast Vollendetes beiseite geschoben (Mathilde Möhring!) wes­halb hielt er ausgerechnet anStine fest und vollendete diesen Roman, mit dem er doch, nach Meinung seiner Kritiker und Interpreten, über Irrungen, Wirrungen nicht hinauskam, nicht als Künstler und nicht als Gesellschaftskritiker? Mit dem er vielmehr (und wie oft ist ihm das mit seinen eigenen Worten bescheinigt worden!) hinter dem dochbe­sonders geliebten Werk zurückblieb? 8 Künstlerisch schien der zweite Wurf schon insofern irrelevanter, als im Miteipunkt ein psychischer und physischer Sonderfall steht: Waldemars schwere Verletzung hat ihn aus seinem Lebenskreis gerissen und aus ihm einen Einzelgänger gemacht, dessen Verhalten, Denken und Fühlen in keiner Weise als typisch für seinen Stand gelten kann. Seinem Willen, die Standesschranken zu miß­achten, haftet zuviel Krankhaft-Eigensinniges an, als daß sein Verhalten für die Erhellung des gesellschaftlichen Lebens der Zeit verwendbar ge­wesen wäre. Was also war Fontane anStine wichtig? Er hat die Ant­wort darauf selbst gegeben:Die Hauptperson ist nicht Stine, sondern ihre Schwester: Witwe Pittelkow. Noch zweieinhalb Jahre später wieder­holte er sich:Mir sind die Pittelkow und der alte Graf die Hauptper-