auch im Roman als natürliche Gegebenheit akzeptiert werden müsse. Im freien Liebesverhältnis als solchem kann er also das Neue und Erstmalige der Pittelkow nicht gesehen haben. Hans-Heinrich Reuter behilft sich damit, daß er der Pittelkow geistige Überlegenheit über den Adel zuerkennt, spricht aber zugleich davon, daß Stine und Lene eine sittliche Überlegenheit besäßen, die in „Fontanes Augen schwerer“ wiege. 14 Natürlich ist diese Feststellung richtig, aber sie erschöpft doch noch nicht, was Fontane eigentlich am Herzen liegt. Auch hier ist schon aus künstlerischen Gründen nicht glaubhaft, daß die Pittelkow als Figur hinter Lene und Stine zurücktreten sollte. Wo läge dann im Gesamtwerk Fontanes ihre Existenzberechtigung, die ihr Fontane doch gerade zugestand? Offenbar war er sich bewußt, daß er der Pittelkow eine Qualität verliehen hatte, die mit den Worten „geistige Überlegenheit“ nur ungenau umschrieben ist.
Ein Pendant zu „Irrungen, Wirrungen“ ist „Stine“ in der Tat nur solange, als man sich auf den Vergleich Lene—Stine beschränkt. Diese beiden sind als „Schwestern“ angelegt, und die Tugenden der einen sind auch die der anderen. Rühmt Rienäcker an Lene, daß sie gut, treu und zuverlässig sei (121), spricht er von der Einfachheit, Wahrheit und Natürlichkeit ihres Wesens (170), so ist der junge Haldem angetan von Stines Wahrhaftigkeit, Natürlichkeit und Güte (290), alles Eigenschaften, von denen sich zwar an der Pittelkow auch Spuren finden, die aber an ihr nicht zur Entfaltung gekommen sind — nicht zur Entfaltung kommen konnten. Was sie hinter Lene und Stine zurücktreten läßt, ist damit angedeutet, was sie aber über jene beiden hinaushebt und „Stine“ zu mehr als einem Pendant zu „Irrungen, Wirrungen“ macht, bedarf der näheren Erläuterung.
Der Blick für das Neue an Pauline Pittelkow wurde vielfach dadurch getrübt, daß man ihre Geschichte allzu voreilig parallelisierte mit der von Frau Dörr in „Irrungen, Wirrungen“. 15 Von deren früherem Verhältnis zu einem Grafen sagt Lene: „Sie spricht davon wie von einem unbequemen Dienst, den sie getreulich und ehrlich erfüllt hat, bloß aus Pflichtgefühl.“ (116)
Das scheint sich zu wiederholen in den Sätzen, mit denen Stine dem jungen Haldern das Verhältnis ihrer Schwester zu dem alten Grafen erklärt: Für sie gilt, daß sie „auf Pflicht“ hält, „wo sie sich aus freien Stücken verpflichtet“ hat. (265) Mit „dem Kontrakte muß man’s halten wie man soll. Was ich übernehme, das gilt, und ehrlich sein ist die Hauptsache geworden.“ Aber selbstverständlich geht es nicht nur darum, daß man eine Nebenfigur des einen Romans nicht mit der Hauptfigur eines anderen Romans zusammenstellen kann, auch wenn Begriffe wie „Dienst “und „Pflicht“ eine innere Nähe anzudeuten scheinen. Es geht vor allem um die veränderte Bewußtseinslage, die sich an der Pittelkow erkennen läßt und an deren Darstellung Fontane bei Frau Dörr noch gar nicht dachte.