Heft 
(1974) 18
Seite
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auch im Roman als natürliche Gegebenheit akzeptiert werden müsse. Im freien Liebesverhältnis als solchem kann er also das Neue und Erstmalige der Pittelkow nicht gesehen haben. Hans-Heinrich Reuter behilft sich damit, daß er der Pittelkow geistige Überlegenheit über den Adel zuer­kennt, spricht aber zugleich davon, daß Stine und Lene eine sittliche Überlegenheit besäßen, die inFontanes Augen schwerer wiege. 14 Na­türlich ist diese Feststellung richtig, aber sie erschöpft doch noch nicht, was Fontane eigentlich am Herzen liegt. Auch hier ist schon aus künst­lerischen Gründen nicht glaubhaft, daß die Pittelkow als Figur hinter Lene und Stine zurücktreten sollte. Wo läge dann im Gesamtwerk Fon­tanes ihre Existenzberechtigung, die ihr Fontane doch gerade zugestand? Offenbar war er sich bewußt, daß er der Pittelkow eine Qualität ver­liehen hatte, die mit den Wortengeistige Überlegenheit nur ungenau umschrieben ist.

Ein Pendant zuIrrungen, Wirrungen istStine in der Tat nur so­lange, als man sich auf den Vergleich LeneStine beschränkt. Diese beiden sind alsSchwestern angelegt, und die Tugenden der einen sind auch die der anderen. Rühmt Rienäcker an Lene, daß sie gut, treu und zuver­lässig sei (121), spricht er von der Einfachheit, Wahrheit und Natürlich­keit ihres Wesens (170), so ist der junge Haldem angetan von Stines Wahrhaftigkeit, Natürlichkeit und Güte (290), alles Eigenschaften, von denen sich zwar an der Pittelkow auch Spuren finden, die aber an ihr nicht zur Entfaltung gekommen sind nicht zur Entfaltung kommen konnten. Was sie hinter Lene und Stine zurücktreten läßt, ist damit an­gedeutet, was sie aber über jene beiden hinaushebt undStine zu mehr als einem Pendant zuIrrungen, Wirrungen macht, bedarf der näheren Erläuterung.

Der Blick für das Neue an Pauline Pittelkow wurde vielfach dadurch getrübt, daß man ihre Geschichte allzu voreilig parallelisierte mit der von Frau Dörr inIrrungen, Wirrungen. 15 Von deren früherem Verhält­nis zu einem Grafen sagt Lene:Sie spricht davon wie von einem un­bequemen Dienst, den sie getreulich und ehrlich erfüllt hat, bloß aus Pflichtgefühl. (116)

Das scheint sich zu wiederholen in den Sätzen, mit denen Stine dem jungen Haldern das Verhältnis ihrer Schwester zu dem alten Grafen er­klärt: Für sie gilt, daß sieauf Pflicht hält,wo sie sich aus freien Stücken verpflichtet hat. (265) Mitdem Kontrakte muß mans halten wie man soll. Was ich übernehme, das gilt, und ehrlich sein ist die Hauptsache geworden. Aber selbstverständlich geht es nicht nur darum, daß man eine Nebenfigur des einen Romans nicht mit der Hauptfigur eines anderen Romans zusammenstellen kann, auch wenn Begriffe wie DienstundPflicht eine innere Nähe anzudeuten scheinen. Es geht vor allem um die veränderte Bewußtseinslage, die sich an der Pittelkow erkennen läßt und an deren Darstellung Fontane bei Frau Dörr noch gar nicht dachte.