Heft 
(1974) 18
Seite
115
Einzelbild herunterladen

um die eigene unaufhebbare Inferiorität. DieseSchwesternschaft maeht deutlich, wie ernst Fontanes Wort genommen werden muß, daß er es wie von Natur verstehe, seine Figuren die ihnen angemessene Sprache reden zu lassen.

Er erklärt ausdrücklich, daß es die Umstände sind, die Siine dazu zwingen, in der Sprache einerweisheitsvollen Lise zu sprechen. Durch ihre Begegnung mit dem jungen Haldern tritt sie ein in dieangekrän­kelte Sentimentalwelt, die ihr Schicksal wird. 16 Deshalbspricht diese Stine im Stine-Stil statt im Lene-Stil.Und so wird die Sentimental­sprache zur Natürlichkeitssprache, weil das Stück Natur, das hier gegeben wird, eben eine kränkliche Natur ist. Das bedeutet doch nichts anderes, als daß sich Lene und Stine in ihrer Substanz gleichen. Es geht weniger darum, einmal eine gesunde, einmal eine kranke Natur im Lebensspiel von Handeln und Unterlassen zu zeigen, als zwei im wesentlichen sich gleichende Naturen vor derselben Schranke zu zeigen, die sie beide nicht überwinden können. Daß Fontane sich dabei bewußt war, mit Stine weniger als mit Lene gegeben zu haben, macht seine Zusage an Schlenther deutlich, den Charakter Stinesso gut so was nach­träglich geht zu motivieren zu suchen. 17 Es mußte sich ganz einfach die Frage aufdrängen, ob diese Blondine die Eigenwilligkeit aufbringen konnte, die Hand eines jungen Grafen auszuschlagen, den sie noch dazu liebte. Im Brief an Schlenther fährt Fontane fort:Meine Frau hat mir einen guten Rat gegeben, ein Einschiebsel von nur drei Zeilen, das aber erheblich helfen wird. Es kann sich dabei nur um das Ende des 8. Kapitels handeln, wo Fontane Stine im Selbstgespräch versichern läßt: Und doch, ich will nicht, will nicht. Ich hab es ihr auf dem Sterbebett schwören müssen... Ich war noch ein halbes Kind damals; aber was ich versprochen, ich will es halten. (267) Das Motiv ist nicht sehr glücklich, und es ist gut zu wissen, daß dieser Einfall (und es kann sich um keine andre Stelle handeln, denn es gibt nichts im Roman, was den Charakter Stines nachträglich begründet) nicht von Fontane selber stammt. Solcher Tochterschwur am Totenbett der Mutter hat doch viel Mißliches. Das Sentimentale an Stine wird verstärkt, das Gesund-Ent­schlossene, das ihrem Charakter zugrunde liegt, wie die Absage an Waldemar zeigt, wird unnötig geschwächt. Die zusätzliche Motivation läßt sie von Herkunfts wegen als sentimental belastet erscheinen. Fon­tanes Kunstverstand hat ihn diesen Mangel allerdings erkennen und auch wieder mildern lassen. Denn der Zwischensatz der Mutter (oben nicht mit zitiert):Du bist nicht so hübsch wie deine Schwester Pauline, das ist mir ein Trost, zeigt Fontane wieder ganz auf der Höhe: etwas weniger Schönheit als Tugendschutz ist besser als feierliche Schwüre. Man kann sich schlecht vorstellen, daß Fontanes Frau auch für diesen Zusatz verantwortlich sein soll. Im übrigen ist dieser Dreizeileneinschub auch insofern keine Glanzleistung, als er seiner ganzen Tendenz nach keinen Zusammenhang gewinnt mit Stines endgültiger Entscheidung. Am Ende geht es doch nicht darum, ob sie der Schwester Pauline auf deren schiefer Bahn folgen soll oder nicht, sondern ob sie den Grafen