Heft 
(1974) 18
Seite
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Haldem heiraten soll oder nicht. Sie hat nicht zu wählen zwischen Moral und Unmoral (und daran ist doch bei dem Totenbettschwur allein zu denken), sondern zwischen Vernunft und Unvernunft, bzw. dem, was sie darunter versteht. Mit der nachträglichen Motivierung von Stines Cha­rakter zielte Frau Fontane also ins Leere.

Der junge Haldern bemerkt durchaus die ihm irrational erscheinenden Elemente in Stines Argumentation. Er kann glauben, alle Vorurteile hinter sich gelassen zu haben und sieht mit Erstaunen, daß Stine von Ansprüchen redet, die ihmim Blute stecken sollen". (301) Er selbst will nur Stines Menschlichkeit gelten lassen, sie ist ihm vollgültige und ausreichende Voraussetzung seines Glücks. Aber Stine sieht vor allem die soziale Gebundenheit des Menschen und damit die unüberbrückbare Kluft zwischen sich und dem Geliebten. Und deshalb beruft sie sich nicht nur auf die Schwäche des menschlichen Herzens seine Kraft reicht nicht aus, um die gesellschaftlichen Unterschiede auszugleichen und den anderen vergessen zu machen,wie klein und arm man sei (301) sondern schließlich auch noch auf das vierte Gebot. Da schimmern in ihren Einwänden plötzlich Reste einer religiösen Gebundenheit auf, die doch nur dazu dienen, ihrem Bewußtsein zu bestätigen, wie hoffnungslos geschieden sie von dem Geliebten ist, wie brüchig die Fundamente sind, auf denen er sein Glück gründen möchte.

Freilich hat man zu bedenken, daß es Fontanes eigene Argumente sind, deren sie sich bedient. Es ist nicht so, daß der Dichter sie wegen ihrer Schwäche und Kleingläubigkeit anklagte, sie eines Mangels an Selbst­gefühl bezichtigte: sie hat seine Unterstützung. Was sie tut, gilt ihm als vernünftig, was sie sagt, scheint ihm akzeptabel. Es ist ja eigentlich auch nur eine Wiederholung der Gründe, die die Pittelkow in ihrem Gespräch mit der Schwester schon vorbrachte, als sie voraussah, was sich für die Schwester an Kummer daraus ergeben könnte:Und ich sag dir, von so was, wie du mit dem Grafen vorhast oder der Graf mit dir, von so was is noch nie was Gutes gekommen. (274) Allerdings, was sie sagte, er­mangelte gänzlich der gefühlsmäßigen Überhöhung, der Irrationalität der Argumentation, wie sie Stine eigen ist. So ähnlich sich die Begründun­gen der Schwestern anhören, so verschieden ist doch das Bewußtsein, das diesen Begründungen Ton und Farbe gibt. Und bei der Gestaltung dieses Bewußtseins kommt Fontane mit der Gestalt der Pittelkow erheblich über das hinaus, was ihm bisher gelang:Ich puste was auf die Grafen, alt oder jung, das weißt du... Aber ich kann so lange pusten wie ich will, ich puste sie doch nicht weg, un den Unterschied auch nich; sie sind nun mal da, und sind wie sie sind, und sind anders aufgepäppelt wie wir, und können aus ihrer Haut nichraus. (274) Auch sie begreift also die Unterschiede und begreift sie in aller Objektivität, aber sie versteht sie nicht als degradierend.

Am aufschlußreichsten dafür, daß die Pittelkow eine neue Bewußtseins­qualität erreicht hat, ist das Untätchen-Gespräch mit dem alten Grafen. Anfangs scheint sie sich in diesem Gespräch nur von der Maxime leiten zu lassen, die man als Fontanes eigene kennt: gleich zu gleich. Wenn sie

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