Heft 
(1974) 18
Seite
118
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war, die waren schlimm. Un die Halderns werden woll auch nich anders gewesen sein als die andern. (295) Hier wird mit bewundernswerter Dreistigkeit die Rolle, die sich der Adel in einem ganzen Jahrhundert preußischer Geschichte angemaßt hatte, ridikülisiert. Seiner moralischen und physischen Dekadenz steht die Gesundheit und Lebenstüchtigkeit der kleinen Leute gegenüber. Das sind Töne, die weder im Munde Lenes noch Stines denkbar wären, denn sie können nur von jemandem ge- Spochen werden, der die Heuchelei der Zeitgenossen und die Verlogen­heit der öffentlichen Meinung hinter sich gelassen hat, der nicht zurück- Schreckt vor ehrwürdigen Institutionen, die ihr Ansehen lediglich aus der Tradition beziehen, sondern der den Mut zur selbständigen, unab­hängigen Einstufung des eigenen Werts und das der andern besitzt. Hier offenbart sich eine existentielle Überlegenheit, eine Superiorität in der Substanz der Person, die im umgekehrten Verhältnis zum sozialen Ansehen steht. In dieser Frau, die sich nicht in einem ungeschichtlichen Abseits befindet, sondern die die Konfrontation mit dem Adel an sich selbst erlebt (und wie!), läßt Fontane die kleinen Leute seiner Zeit einen entscheidenden Schritt über ihr herkömmliches Bewußtsein hinaus tun. Die Pittelkow gewinnt, ungeachtet ihrer sozialen Lage, eine souveräne Selbstachtung, ein von keinem Minderwertigkeitsgefühl angekränkeltes, nur an der eigenen Person orientiertes Selbstgefühl, das keine Bestä­tigung von außen benötigt. Hier wird für die eigene Selbstsicherheit ein tragender Grund gewonnen, der Voraussetzung ist für die geschichtlichen Wandlungen der folgenden Zeit. Fontane ist diesem Phänomen in seinem weiteren Werk nicht nachgegangen. Er hatte hier einen äußersten Punkt erreicht, über den er, seiner eigenen Bewußtseinslage entsprechend, nicht hinausgelangen konnte.

Aus der Kühle der Betrachtungsweise, die die Pittelkow demonstriert, läßt sich schließen, daß von einer Gefühlsbindung zwischen ihr und dem Grafen nicht die Rede sein kann. Der Graf hält sie aus, und sie unter­zieht sich bei Tag und bei Nacht den Pflichten, die ihr daraus erwachsen. Der Großteil ihrer Verpflichtungen scheint in die Nachtstunden zu fallen, denn Fontane (in einem Anfluge übermütigen Humors) läßt sie, als der alte Graf bei Tage kommt, um sie wegen des Verhältnisses zwischen seinem Neffen und Stine zur Rede zu stellen, ausrufen:Jott... nu schon bei Dage! (293) Aber wenn sie sich dann auch mit einer Geste des Respekts den Kragen zurechtrückt und die Küchenschürze hinter den Ofen wirft (welch erheiternde Genremalerei!), so zeigt doch der Anfang der Unterredung, daß sie in keinem Punkte nachzugeben, son­dern ihre Position in vollem Umfange zu behaupten gedenkt:Die Pittelkow sah, daß er schlechter Laune war, und erwiderte deshalb, ohne sieh von ihrer Fensterstelle zu rühren, im gleichgültigsten Ton:

,Guten Tag, Graf..(293) Hier wie überall ist sie lebensklug genug, ihrer Abhängigkeit von diesem Manne eingedenk zu sein, aber nirgends erkauft sie sich seine Gutwilligkeit durch Unterwürfigkeit. Niemals heuchelt Sie Zuneigung oder Anhänglichkeit oder gibt durch Demuts- bezetlgungen ihren Stolz preis.