Heft 
(1974) 18
Seite
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singen läßt, unversehens gesellschaftliche Relevanz. Überall beherrscht Fontane hier auch bereits die literarische Technik des Vergleichs. Wie er das Hügelgelände der Edinburger Altstadt personifiziert, um es genauer darstellen zu können, das hat schon Format:Der Hügel steigt langsam an, läuft dann, wie seine Kräfte sparend, in horizontaler Linie weiter, bis er plötzlich, zu einem letzten Sprunge sich zusammenraffend, kegel­artig in die Höhe schießt und nun den Weg überschaut, den er eben zurückgelegt. Das ist überaus anschaulich und deutlich, und englische Fontane-Freunde bestätigen ausdrücklich, daß man sich heute auch in den meisten anderen Fällen nach Fontanes Angaben orientieren und das Land mit Gewinn bereisen könne (nicht zufällig erschien 1965 eine eng­lische Übersetzung des Werkes).

Auf dieWanderungen voraus deutet auch die Haltung des Reisenden gegenüber den Vorgefundenen Reliquien und angeblichechten Stücken. Als man ihm die schottischen Kronjuwelen vorführt, merkt er skeptisch an:Pflichtschuldigst sieht man sich solche Dinge an, hört mit halbem Ohr die hergeleierten Erklärungsworte, bezahlt den üblichen Sixpence und ist froh, wenn man aus dem Zimmer mit seinem großen sechseckigen Glaskasten wieder heraus ist. Krone, Zepter und Reichsschwert von Schottland verlieren, nach seiner Überzeugung,in Ihrer Allgemeinver- wendetheit den Reiz des Besonderen.Alles Reliquienwesen müssen wir auf eine ganz bestimmte Person zurückführen können. Ebenso überzeugt, was er über die allzu naturalistischen Sensationen an historischen Stätten äußert. In Holyrood zeigt man ihm den Blutfleck, den dreihundert Jahre vorher der arme Rizzio hinterlassen haben soll:Diese Dinge dürfen einem nicht in Substanz auf den Leib rücken. Die roten Flecke, die das Gewissen der Lady Macbeth sieht, wo sie nicht sind, werden ewig ihr Grauen für uns behalten; aber es ist vorbei damit, wenn man uns das Blut tischbreit auf die Diele malt.

Sicher, in den sechzehn Tagen seiner Reise mußte sich auch Theodor Fontane zu den längst genormten Wegen des zeitgenössischen Schottland- Tourismus bequemen, mußte auch er die obligatorischen Blutflecke besichtigen. Aber die stupenden Kenntnisse von der vielgestaltigen Vergangenheit des Landes ließen ihn dabei keineswegs denhöchsten Reiz des Reisens versäumen: das Besondere, das Verborgene, das Unalltägliche gesehen zu haben. Und so legitimiert sich Fontane auch unter diesem Aspekt als ein Reiseleiter, dem man sich getrost und mit Vergnügen anvertrauen kann.

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Der Verlag Rütten & Loening Berlin präsentiert Fontanes Schottland- Buch 1974 zum ersten Mal für die Leser der DDR und stattet es mit zahlreichen Illustrationen aus dem 19. Jahrhundert aus (darunter befin­den sich die Skizzen von Fontanes Reisebegleiter Bernhard von Lepel). Dem Text liegt die einzige zu Lebzeiten des Autors erschienene Ausgabe von 1860 zugrunde, die ich allerdings für die neue Edition um zwei