Heft 
(1974) 18
Seite
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Charakterisierung Leopolds bietet. Die moderne Reklame hat uns so beeinflußt, daß wir die Milch mit muskulösen Athleten, mit kräftigen, rotwangigen Kindern, kurz: mit dem Gesunden und Frischen überhaupt verbinden.

Was dagegen in Frau Jenny Treibei beim WortMilch mitschwingt, ist von diesem Bild so weit entfernt wie nur möglich. Die Milch deutet eher auf ein Bild der Schwäche, der Farblosigkeit und der Abhängigkeit hin, wie es zur Welt des neugeborenen Kindes gehört. 2 Ja diese zusam­menhängenden Gedanken bilden ein Leitmotiv, das sich durch den ganzen Roman hindurchzieht. In einem früheren Kapitel, wo Jenny die Rück- gradlosigkeit ihrer beiden Söhne beklagt, bemerkt sie ihrem Mann gegenüber:Ich weiß nicht, wo beide Jungen diese Milchsuppenschaft herhaben. Zwei geborene Berliner, und sind eigentlich, wie wenn sie von Hermhut oder Gnadenfrei kämen. Sie haben doch beide 'was Schläfriges... (S. 103). Dieser Gedanke wird nun in der gegenwärtigen Szene weitergeführt, indem Leopold mit spürbarer Billigung die Milch alsimmer ein bißchen labbrig bezeichnet (S. 116).

Dann gegen Ende des Romans, als die schließlich sich entspinnende Ver­lobung zwischen Leopold und Corinna praktisch vorüber ist, ruft Profes­sor Schmidts alte Aufwärterin, Frau Schmolke, ihre damalige Reaktion auf die Verlobung ins Gedächtnis zurück.Warum nicht? hatte sie gedacht.Warum soll es nich gehen? Und wenn der Leopold auch bloß ein Wickelkind is, Corinnchen wird ihn schon aufpäppeln und ihn zu Kräften bringen. (S. 211.)

Auch dort, wo die Milch nicht ausdrücklich erwähnt wird, erweist sich Leopold als bloßes Kind, das keine eigene Kraft und keinen eigenen Willen besitzt. Das sieht Corinna klar ein, als sie Frau Schmolke sagt, Die Schwiegermütter sind eigentlich immer dagegen, und jede denkt, ihr Püppchen ist zu schade (S. 170) wobei zu bemerken ist, daß Corinna anscheinend von Schwiegermüttern im allgemeinen redet, in Wirklichkeit aber Frau Jenny und Leopold im Sinne hat. Ähnliches scheint auch im Hintergrund von Marcell Wedderkopps Gedanken zu stecken, wenn man nach dem bildlichen Ausdruck urteilen soll, den er gebraucht, um Leopolds Bestrickung durch die eigenartige Koketterie Corinnas zu beschreiben:Dieser unglückliche Leopold hängt schon lange an ihren Lippen und saugt das süße Gift ein (S. 192). Was aber noch wichtiger ist: des Jungen eigene Mutter sieht ihn auch unter diesem Aspekt. In ihren Augen ist er einfach ein Kind, dessen Heirat entweder überhaupt nicht in Frage kommt oder wenigstens von seinen Eltern bestimmt werden soll (S. 12 und 149150). Es geschieht also in völliger Übereinstimmung damit und verrät zugleich auf sehr unterhaltende Weise, wie die Hauptfigur im Unterbewußtsein zu ihrem jüngsten Sohn steht, daß sie Professor Schmidt besucht, um sich empört über die Ver­lobung Leopolds und Corinnas zu beschweren, und dabei diese beschul­digt, ihr höheres Alter ausgenützt zu haben, wo doch Leopold der ältere von beiden ist! (S. 193)

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