Wenn man alle diese thematisch eng verbundenen Fäden bedenkt, kann man nicht umhin, Leopold zuzustimmen, der sich an die Milch macht mit den Worten: „Mein eigentliches Getränk“ (S. 118). Denn kein anderes Getränk hatte seine Schwäche, seine Abhängigkeit, seine Trägheit so kurz und bündig oder gar so gut ausdrücken können. Indem Leopold nun die Milch als sein „eigentliches Getränk“ zu sich nimmt, unterstreicht er bloß das traurige Bild, das wir uns schon aus anderen Quellen von ihm gemacht haben.
In dieser Hinsicht ist seine spätere, wenn auch nicht langewährende Braut von anderer Art. Sie hat sich einer viel weniger einschränkenden Erziehung erfreut, nach dem Prinzip ihres Professoren-Vaters, daß „das Schmidtsche sich selbst [hilft]“ (S. 167). Folglich handelt sie immer als selbständige Frau, die den Vater nicht erst zu Rate ziehen muß, und trotz ihrer früheren Verneinung gegenüber dem Vetter Marcell (S. 61—62), kann Kommerzienrat Treibei mit vollem Recht eine schlaue Anspielung machen auf eine „arme und etwas emanzipierte Edeldame, die natürlich auch Schmidt heißen kann“ (S. 104). Weiter, während Frau Jenny nicht imstande ist, „einen forschen Menschen“ aus ihrem jüngeren Sohn zu machen (S. 103), erweist sich Corinna als „eine große, forsche Person und hat die Kinderschuhe längst ausgetreten“ (S. 167). Und schließlich, während Leopold dem Akt nicht einmal beiwohnt, der seine endgültige Verlobung mit Hildegard Munk bedeutet, mit der Braut also, die seine Mutter für ihn — wenn man so formulieren darf — „gewählt“ hat, ist Corinna dagegen die bewegende Kraft hinter ihrer Verlobung mit Leopold, und zwar so eindeutig, daß sie praktisch den Heiratsantrag selbst macht.
Leopold und Corinna stellen also einen klaren Fall von Unverträglichkeit dar. Und in diesem Zusammenhang gewinnt die Milch wieder an Bedeutung. Einige Kapitel nach der Episode mit der Milch, am Tag der ersten Verlobung, kommt Corinna in einem Zustand der Erschöpfung wieder nach Hause — die Folge ihrer Anstrengungen, Leopold einen Heiratsantrag abzuringen — und bittet Frau Schmolke um einige Erfrischungen. Was aber hier besonders ins Auge fällt, ist, daß sie einen starken Tee bestellt „und dann ordentlich Zucker; aber ganz wenig Milch, Milch macht immer gastrisch“ (S. 162). Diese sehr andersartige Haltung gegen die Milch symbolisiert eine ganz andere Geisteshaltung gegen das Leben überhaupt und prägt dem Leser nochmals ein, daß das Paar kaum etwas gemein hat — und das ironischerweise am Tage, wo die beiden innerlich sich näher kommen.
In dieser Hinsicht nehmen Leopold und Corinna die Hauptfiguren der postum erschienenen Erzählung Mathilde Möhring vorweg. Hugo Großmann ist auch ein schwacher, abhängiger junger Mann, Mathilde ein kräftiges, selbständiges Mädchen, das dafür dankbar ist, daß die Mutter ihr „immer freie Hand gelassen hat“. 3 Es scheint also kaum ein Zufall zu sein, daß ihre verschiedenen Temperamente gleichfalls durch ihr Verhalten gegen gewisse Getränke sinnbildlich dargestellt werden. Als Hugo, der schon von Anfang an ein Liebhaber von Sodawasser ist, nach