Heft 
(1975) 22
Seite
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Glückwunschbrief, auf die Bestätigung seines Wirkens als Kritiker durch denAltmeister, zu dem zum Beispiel auch Otto Brahm und Siegfried Jacobsohn aufblickten, lebenslang stolz gewesen. 3 Nach Auskunft Julia Kerrs, der Witwe des 1948 verstorbenen Kritikers, gegenüber Walter Huder, dem Leiter des Kerr-Archivs derAkademie der Künste,trug gerade dieser Brief wesentlich dazu bei, daß sich Alfred Kerr endgültig für die künstlerische Arbeit eines Kritikers entschloß. 4 Der zitierte Brief ist ein herrliches Zeugnis für die Kontinuität der Kritik, beson­ders für die in Deutschland nicht immer ununterbrochene und vor allem nicht breite kritische Stafette.

Allein Alfred Kerr hat die von Theodor Fontane vertretene objektive und vorwärtsweisende Richtung der Kritik auf die Dauer nur inkonse­quent und höchst widerspruchsvoll fortgesetzt.

Es ist gewiß kein Zufall, daß Fontane gerade eine Wildenbruch-Kritik Kerrs zum Anlaß seines Zuspruches nimmt. Fontane sieht im konsequen­ten ästhetischen Kritiker des Hohenzollern-Dramatikers, der diesen eindeutiger als er selbst verurteilte, mit Recht den legitimen Erben der eigenen Kritiker-Tätigkeit. Daß Kerr dabei insgesamt stärker wissen­schaftlich-ästhetisch und zugleich stärker allgemeinmenschlich als Fon­tane argumentierte und urteilte, das zu erkennen und kritisch festzu­stellen, war nicht von Fontane zu verlangen, der über Kunst und Literatur ebenfalls primär ästhetisch urteilte, jedenfalls Altes und Neues in der Kunst (und nicht nur dort) vorzugsweise unter ästhetischen Vor­zeichen sah. Vorerst war Grund genug zu Überein- und Zustimmung vorhanden. Dazu gehörte in erster Linie das gemeinsame differenzierte, kritisch-bejahende Engagement für die naturalistische Bewegung. Beide warenTrompeter für und wider 5 den Naturalismus. Beide ließen nur dichterisch schöpferischen Naturalismus voll gelten, z. B. den Gerhart Hauptmanns, während sie doktrinär-tendenziösen Naturalismus (Ibsen) oder subjektlose pedantisch-mechanische Nachahmung der Natur recht kritisch sahen bzw. ablehnten. Aber dabei werden auch schon die Widersprüche zwischen beiden sichtbar. Fontane wandte sich mehr gegen die anhaltende pessimistisch-fatalistische Wirklichkeitsinterpretation (Friedensfest,Familie Selicke), Kerr mehr gegen fehlende Wahrhaf­tigkeit in der Darstellung der Wirklichkeit (Sudermann) und nur-hand- werkliche, nur-technische Handhabung der naturalistischen Methode (Holz, Schlaf, Dreyer). Seine Kritik am Naturalismus greift nicht so tief in die Realität ein wie diejenige Fontanes.

Beide bekannten sich zu einer relativ unmittelbaren, relativ lebens­ähnlichen Form des künstlerischen Abbildes. Beide forderten vom Schauspieler Identifizierung mit der Rolle; beide lehnten eine augen- zwinkemde vorwegnehmende Darstellung ab.

Grundlagen der Affinität waren weiter die gemeinsame Aversion gegen den Bayreuther Festspielrummel und gegen transzendente Tendenzen überhaupt, besonders gegen religiöse Inbrunst. Fontanes Konsens wird ferner von folgender Angabe in Kerrs in den zwanziger Jahren geschrie-

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