benen Lebenslauf her begreiflich, deren über die Bebel-Lektüre hinausgehender biographischer Sachgehalt allerdings nicht überprüft wurde: „... Mit zwanzig las ich das damals noch verbotene Buch von Bebel ,Die Frau', das mich stark beeinflußt hat. Ich fuhr 1896 zum Sozialisten-- kongreß nach London — wo ich mit diesem Bebel im Regents Park spazieren ging und Aussprachen hatte.“ 6 Kerr müßte also in der Zeil in London gewesen sein, in der Montane in der Korrespondenz mit dem Londoner Arzt James Morris zu seinen tiefsten gesellschaftlichen Einsichten und Bekenntnissen gelangte.
Kerr erinnert sich an die eigene progressive Phase in einer Zeit, in der angesichts der wachsenden faschistischen Gefährdung der Weimarer Republik, als deren Repräsentant er sich fühlte, eine verstärkte Politisierung und Demokratisierung der eigenen Konzeption dringend geboten erschien; denn seit dem Jahrhundertbeginn war er weitgehend zum indirekten liberalen Apologeten des imperialistischen Systems geworden. So war er auch im Jahre 1914, allerdings nur für kurze Zeit, der nationalistischen Kriegsbegeisterung verfallen.
Zwar hat Kerr auch zwischen Jahrhundertwende und erstem Weltkrieg beachtenswerte Kritiken geschrieben, z. B. über Gerhart Hauptmanns Stücke „Der rote Hahn“, „Der arme Heinrich“ und „Festspiel in deutschen Reimen“, über Hugo von Hofmannsthals „Elektra“, Bemard Shaws „Cäsar und Cleopatra“ oder über Maxim Gorkis „Feinde“, insgesamt dominiert jedoch nach der Jahrhundertwende das bei ihm schon von Anfang an spürbare und auch in den erwähnten relativ objektiven Kritiken nicht überwundene Verfahren, durch höchst freimütige Wiedergabe der unmittelbaren Impression zunächst an die ästhetische und auch gesellschaftliche Wirklichkeit heranzugehen, um sie danach unhistorisch, metaphysisch-abstrakt wegzuinterpretieren. Kerr geht zunächst unmittelbar an die ästhetische Realität heran, und zwar dank seiner verfeinerten Nerven und seiner hohen sprachlichen Elastizität unmittelbarer als viele andere Kritiker, um sie aber sogleich im Sinne seines gegenüber den 90er Jahren nunmehr eindeutig konservativen bürgerlichen Klassenvorurteiles zu verallgemeinern. Erst bei Kerr, noch nicht bei Fontane, treten apologetische Phrasen auf wie „Leben“, „Dasein“ und „Seele“, welche die objektiven Zusammenhänge verschleiern. Bei Fontane dagegen hat der Lebensbegriff noch keinen ideologischen lebensphilosophischen Charakter, sondern ist mit menschlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit identisch. Bei Fontane hat der Lebensbegriff spontan-materialistischen, bei Kerr subjektiv-idealistischen, ausgeprägt agnostizistischen Charakter.
Kerr ist besonders seit der Jahrhundertwende ein exemplarischer Vertreter des auf die ästhetische und gesellschaftliche Wirklichkeit zugehenden und sie zugleich indirekt apologetisch entschärfenden Verfahrens. So hat er 1898 Henrik Ibsen als „Seelenbergmann ohnegleichen“ 7 , Arthur Schnitzler 1904 als „Großstadtdichter“ und „Erweiterer der Kenntnis der menschlichen Seele“ 8 interpretiert. Die Tendenzen zur Vulgärsoziologie und zur psychologischen Wegabstraktion von der objektiven
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