Heft 
(1975) 22
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benen Lebenslauf her begreiflich, deren über die Bebel-Lektüre hinaus­gehender biographischer Sachgehalt allerdings nicht überprüft wurde: ... Mit zwanzig las ich das damals noch verbotene Buch von Bebel ,Die Frau', das mich stark beeinflußt hat. Ich fuhr 1896 zum Sozialisten-- kongreß nach London wo ich mit diesem Bebel im Regents Park spazieren ging und Aussprachen hatte. 6 Kerr müßte also in der Zeil in London gewesen sein, in der Montane in der Korrespondenz mit dem Londoner Arzt James Morris zu seinen tiefsten gesellschaftlichen Ein­sichten und Bekenntnissen gelangte.

Kerr erinnert sich an die eigene progressive Phase in einer Zeit, in der angesichts der wachsenden faschistischen Gefährdung der Weimarer Republik, als deren Repräsentant er sich fühlte, eine verstärkte Politi­sierung und Demokratisierung der eigenen Konzeption dringend geboten erschien; denn seit dem Jahrhundertbeginn war er weitgehend zum indirekten liberalen Apologeten des imperialistischen Systems geworden. So war er auch im Jahre 1914, allerdings nur für kurze Zeit, der nationalistischen Kriegsbegeisterung verfallen.

Zwar hat Kerr auch zwischen Jahrhundertwende und erstem Weltkrieg beachtenswerte Kritiken geschrieben, z. B. über Gerhart Hauptmanns StückeDer rote Hahn,Der arme Heinrich undFestspiel in deut­schen Reimen, über Hugo von HofmannsthalsElektra, Bemard Shaws Cäsar und Cleopatra oder über Maxim GorkisFeinde, insgesamt dominiert jedoch nach der Jahrhundertwende das bei ihm schon von Anfang an spürbare und auch in den erwähnten relativ objektiven Kritiken nicht überwundene Verfahren, durch höchst freimütige Wieder­gabe der unmittelbaren Impression zunächst an die ästhetische und auch gesellschaftliche Wirklichkeit heranzugehen, um sie danach unhistorisch, metaphysisch-abstrakt wegzuinterpretieren. Kerr geht zunächst unmittel­bar an die ästhetische Realität heran, und zwar dank seiner verfeinerten Nerven und seiner hohen sprachlichen Elastizität unmittelbarer als viele andere Kritiker, um sie aber sogleich im Sinne seines gegenüber den 90er Jahren nunmehr eindeutig konservativen bürgerlichen Klassenvor­urteiles zu verallgemeinern. Erst bei Kerr, noch nicht bei Fontane, treten apologetische Phrasen auf wieLeben,Dasein undSeele, welche die objektiven Zusammenhänge verschleiern. Bei Fontane dagegen hat der Lebensbegriff noch keinen ideologischen lebensphilosophischen Cha­rakter, sondern ist mit menschlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit iden­tisch. Bei Fontane hat der Lebensbegriff spontan-materialistischen, bei Kerr subjektiv-idealistischen, ausgeprägt agnostizistischen Charakter.

Kerr ist besonders seit der Jahrhundertwende ein exemplarischer Ver­treter des auf die ästhetische und gesellschaftliche Wirklichkeit zugehen­den und sie zugleich indirekt apologetisch entschärfenden Verfahrens. So hat er 1898 Henrik Ibsen alsSeelenbergmann ohnegleichen 7 , Arthur Schnitzler 1904 alsGroßstadtdichter undErweiterer der Kenntnis der menschlichen Seele 8 interpretiert. Die Tendenzen zur Vul­gärsoziologie und zur psychologischen Wegabstraktion von der objektiven

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