Wirklichkeit sind offensichtlich. Die Dichtung Frank Wedekinds wird in ihrer Erscheinungsform, in ihren tragikomischen, grotesken, marionetten- haften Elementen, richtig beschrieben. Indem Kerr Wedekind jedoch „einen Platz außerhalb der Gesellschaft, ja außerhalb der Welt“ 9 anweist, entschärft er dessen Kritik an den durch das Geld entfremdeten menschlichen Beziehungen kn Imperialismus und macht damit sein Werk für die kapitalistische Gesellschaft akzeptabel. Am „Roten Hahn“ nimmt er daran Anstoß, daß Fielitz, der zweite Mann der Wollten, „für die Flottenbewegung auftritt“. 10 Dieses Detail sei durch die Handlung nicht gedeckt. Die imperialistische Entwicklung nicht durchschauend und in der Idealvorstellung von einem restlos gestalteten ethischen und attischen 11 Drama befangen, kritisiert er den in diesem Detail liegenden spontan epischen politischen Ansatz, den Gerhart Hauptmann seiner intensiven Wirklichkeitsbeobachtung verdankt, statt ihn positiv herauszustellen. Bertolt Brecht wird dann in seiner Bearbeitung von „Biberpelz“ und „Rotem Hahn“ gerade dieses Detail entsprechend betonen. 12 Auch Fontane verhält sich da, in einem ähnlichen früheren Gerhart- Hauptmann-Fall, vorwärtsweisend, das Neue fördernd, wenn er in der Uraufführung von „Vor - Sonnenaufgang“ gerade die neuen, spontan epischen, über die konventionelle Dramaturgie hinausweisenden Szenen vernachlässigt findet. In der Inszenierung der Freien Bühne sieht er objektiv zumindest zum Teil einen Fall von „Verwertung“ und „Verein- nahmung“ von progressiver Dichtung durch das bestehende System. Während Fontane Literatur und Theater im wesentlichen objektiv, im Namen des Lebensprozesses, interpretierte, vereinnahmte Kerr im allgemeinen alle Kunst statisch-zusammenziehend zur ahistorischen Affirmation des bürgerlichen Zeitalters. Damit geriet er als Kritiker, besonders nach 1917 im wachsenden Maße in eine anachronistische, nur mit höchster autoritärer und selbstgefälliger Anspannung behauptete Position. So erschien er dem jungen Brecht notwendig als der Repräsentant der stockbürgerlichen Nuancen schlürfenden kulinarischen Theaterkritik. Kerr war aber primär kein formalistischer, ästhetisierender Kunstkritiker. Auch er hat wie Fontane Literatur und Theater nach ihrem Wirklichkeitsgehalt befragt; nur waren eben seine Begriffe von Realität, Drama und Theater im Vergleich zu denen Fontanes abstrakt, einseitig und undifferenziert. Auch war Kerr nicht nur impressionistisch-autokratischer Verreißer; namentlich in seiner Frühzeit vermitteln seine stärker als später argumentierend angelegten Kritiken dem Stückeschreiber hilfreiche, produktive (aristotelisch-) dramaturgische Hinweise. 13 Auch vermag die sozialistische Theaterkritik zur Bereicherung der eigenen ästhetischen Substanz in Inhalt und vor allem Form von Kerrs sprachlicher Verdichtungskraft, von seiner Pointierungsfähigkeit zu lernen. 14 Insgesamt jedoch hat Fontane bei Siegfried Jacobsohn und besonders bei Herbert Ihering die objektivere und produktivere Weiterführung, die dialektischere und schöpferischere Rezeption erfahren.
Jacobsohn, der in Fontane den „anschaulichsten aller deutschen Theaterkritiker“ sah. dessen „Zauber“ er „immer wieder erlegen sei“ 13 , und
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