Heft 
(1975) 22
Seite
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Ihering, der wiederholt auf Fontane zu sprechen kommt, verhielten sich insofern schöpferischer, wirklichkeitsgemäßer und Fontane gemäßer als Kerr, als sie nicht lebenslang das realistisch-naturalistische Schicksals-- stück Gerhart Hauptmanns und später Oneills und das stark verinner­lichte Theater Otto Brahms verabsolutieren, sondern mit der objektiven Entwicklung gingen, die im Interesse der Kritik am Imperialismus stärker auf Abstraktion gerichtete künstlerische Lösungen erforderte. So engagierte sich Jacobsohn, freilich nicht konsequent, für Frank Wede- kind und Carl Sternheim, mit denen Kerr ästhetisch und gesellschaftlich wenig oder nichts anzufangen wußte. Während er aber bei Wedekind noch subjektives und vereinnahmtes Bekennertum fand, diffamierte er den konsequenten, satirischen Bürgerkritiker Stern als nur negierenden, seelenlosen Techniker. Ihering engagierte sich darüber hinaus für Georg Kaiser, Arnolt Bronnen, Emst Barlach und Bertolt Brecht, die von Kerr, ähnlich wie schon Sternheim, ganz bewußt herabgesetzt wurden, und zwar vorwiegend vom Ästhetischen her.

Jacobsohn und Ihering förderten die ästhetische - Entwicklung, allerdings, den Spielregeln des spätbürgerlichen Kunstbetriebes folgend, ebenfalls mehr vom Ästhetischen her als von den objektiven gesellschaftlichen Erfordernissen. Man ging notwendig über Fontanes relativ lebensähnliche künstlerische Abbildvorstellung hinaus, blieb aber andererseits in der konkreten Parteinahme für das fortschreitende gesellschaftliche Leben zurück. Fontanes bei aller Fähigkeit zum uneingeschränkten Autoren- und Schauspielerlob lockere und lose, nach seinen eigenen Worten nicht- intime,' nicht-habitue-hafte 15 Theaterbeziehung war eben, wie Fontane schon selbst sah, nicht nur ein Nachteil, sondern auch ein entscheidender Vorzug. Die relativeTheaterfremdling-Schaft ermöglichte ihm ein umfassenderes, dem gesamten Lebensprozeß stärker verbundenes Kunst­urteil als zum Beispiel Ihering, der in seiner größten Zeit, in den zwanziger Jahren, vorwiegend ästhetisch und kulturpolitisch argumen­tierte und nur ganz an der Peripherie seiner Kritik gelegentlich politisch-impressionistisch analogisierte und einordnete.

So spielt bei Ihering auch die Menschenbild-Vorstellung eine geringere Rolle als bei Fontane, Jacobsohn und sogar bei Kerr, dem bei aller Ahistorizität ein bestimmtes ethisch-politisches menschliches Ideal vor­schwebte, das er vorrangig in Gerhart Hauptmanns Florian-Geyer-Gestalt als ihm gemäßer Synthese von Elitärem und Altruistischem sah. Der Umstand, daß er kein Kritikervom Fach lf > war, gestattete Fontane ferner, im Unterschied zu den Fachkritikern Kerr 17 und vor allem Ihering, die freimütige, selbstkritische Aussprache interner, speziell psychologischer Probleme der Kritik. Allein es ist die Frage, ob sich die relativ distanzierte und universell überblickende Position Fontanes nach der Theaterrevolution von 1905, nach der Ablösung des Brahm- schen Literaturtheaters durch das synthetische Literatur-, Regie- und Schauspieltheater Max Reinhardts, von bürgerlichem Standort aus noch hätte weiterführen lassen. Die neue Stufe der bürgerlichen Theaterent-

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