Heft 
(1975) 22
Seite
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hat sein ganzes Leben wie sein ganzes Wissen in jeder Lebensstunde gegenwärtig vor sich. Er ist im Yankeeland und denkt an das liebe Breslau. Er steht vor dem Grabe Napoleons und erinnert sich an seinen Lehrer im Elisabethaneum Zimpel. Er sieht ein Stück von Wedekind und hört die Klänge Heines, Brentanos, der längst dämmernden Roman­tiker ... Ob er von Ibsen im Theater oder vom Grabe Ibsens spricht: ob er von Florian Geyer auf der Bühne erzählt oder vom Streben nach Heldentum im Leben; ... immer sind es Lebenserinnerungen, tief emp­funden, im Innersten aufgespeichert, mit dem eigenen Blute vermischt, von starkem Lyrismus getränkt und immer ein Bekenntnis zum Leben.. , 21

Kerr ist demnach ein existenziell-assoziativer Denker, der nach Präsen­tismus und Simultanismus, nach restloser Vergegenwärtigung alles ihm Teueren strebt, ohne Frage nach Historizität und objektivem Wert des Erinnerten. In seinem tiefsten Wesen ist er assoziierender Impressionist, lyrisch-analogisierender Beschwörer und damit Antihistorist. Sein sub­jektiver Idealismus schließt allerdings ein starkes neukantisches ratio­nales Element ein. Aber sein Prinzip der lyrisch-assoziativen Zusammen­ziehung, z. B. auch in derKernbelichtung eines Autors als umfassend­ster Form der Kerrschen Kritik bzw. im Aphorismus als Teilelement der Kritik, sein Begriff desEwigkeitszuges sind Fontanes relativierender Gelassenheit und erst recht Brechts Verfremdung als einem prinzipienfest historisch relativierendem Verfahren diametral entgegengesetzt. Dem historischen Prozeß suchte Kerr die Freude an der durch Erinnerungen aufgeladenen Gegenwart entgegenzusetzen. 22 Er war letztlich ein völlig entwicklungsloser und trotz seines Scharfsinns und seiner Intellektualitäl auch ein diskursiv wenig entwickelter Denker.

Entwicklungslosigkeit als Unveränderbarkeit und Unwandelbarkeit erschien ihm selber offenbar als Vorzug; als Beweis für Einheitlichkeit und Festigkeit der Persönlichkeit. Sich wandelnde historische Gestalten. Männer der Umkehr schätzte er nicht. Aber bei aller beabsichtigten und auch realen Statik in seinen Anschauungen hat sich Kerr den tief­greifenden sozialen und politischen Veränderungen nach 1917 nicht völlig entziehen können. Auch bei ihm sind in den zwanziger Jahren gewisse ideologische Wandlungen sichtbar, die bei ihm jedoch abstrak­teren, weniger zeitbezogenen und auch undeutlicheren und widersprüch­licheren Charakter tragen als bei anderen Ideologen und Künstlern der Zeit. Die zwanziger Jahre bringen bei Kerr im Ethischen und Sozialen eine Hinwendung zum Kollektiven und zur Masse. Der antifaschistische Kampf wird ihn dann, besonders in der Emigration, zum militanten bürgerlichen Demokraten und Antifaschisten werden lassen. Im Ästhe­tischen jedoch bleibt er bis zuletzt, bis zum im englischen Exil geschrie­benen Re-Education-Vorschlag für die Theater im befreiten Deutsch­land, beim ethischen und attischen Drama des Einzelnen, beim realistisch-naturalistischen Lebensausschnitt und beim bürgerlichen Tendenzdrama stehen. So empfiehlt er als Umerziehungsstücke z. B. das

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