zweideutige und umstrittene Antikriegsdrama „Die endlose Straße“ von S. Graff und C. E. Hintze, das die Nazis noch bis 1936 auf den deutschen Bühnen zur Vorbereitung der Aufrüstung hatten gebrauchen können, und das Dokumentardrama „Affaire Dreyfus“ von H. J. Rehfisch und W. Herzog, in dem er den Geist von 1848 bewahrt sieht. Diese beiden Stücke und noch andere dienten ihm um 1930 wie auch 1945, bei Abfassung der Re-Education-Schrift, auch zur Abwehr von Brechts bewußter Episierung von Drama und Theater. Mit der konstanten Zurückweisung Brechts und aller proletarisch-revolutionären Stücke, deren Problemstellung sich nicht isolieren läßt und die sich damit nicht entschärfen ließen, erwies sich Kerr als ästhetischer Apologet der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, enthüllte er damit den bourgeoisen Kern seiner widerspruchsvollen Weltanschauung.
Auch Kerr kannte den bürgerlichen Widerspruch zwischen Erkenntnis und Gefühl, Einsicht und „Entzücken“. 23 Doch stärker als bei Heinrich Heine, Fontane, Feuchtwanger oder Thomas Männ setzten sich bei ihm der impressionistisch-liberale Genuß des noch Gegebenen, das private „Entzücken“ durch und verhinderten ein objektives Bild der Epoche vor allem in ästhetischer, aber auch in politischer und sozialer Hinsicht. Kerr bedeutete damit im wesentlichen die subjektivistische Entschärfung und Enthistorisierung Fontanes.
Nachdem am Beginn Fontane über Kerr zitiert wurde, soll nun Kerr über Fontane zu Wort kommen. Dabei können leider noch nicht Kerrs Briefe herangezogen werden, deren Veröffentlichung zur Zeit von Walter Huder vorbereitet wird. Wir müssen uns daher an dieser Stelle auf die Auswertung der Äußerungen Kerrs über Fontane beschränken, die in der 1917 veröffentlichten fünfbändigen Ausgabe der „Welt im Drama“ auftreten. Die wesentlichsten Äußerungen sind in dem wichtigsten Band 1 enthalten, der in „Kernbelichtungen“ der Autoren und in Stückkritiken „das neue Drama“ beleuchtet. Im Zusammenhang mit Ibsen, Schnitzler und Gerhart Hauptmann kommt Kerr hier auf Fontane zu sprechen.
Im glänzend geschriebenen Aufsatz über Ibsen als „Ahnherrn“ des neuen deutschen Dramas, der vor allem dem Einzug des norwegischen Dramatikers auf der deutschen Bühne gilt, setzt sich Kerr auch mit der deutschen Ibsen-Kritik auseinander. Dabei kommt er notwendig auch auf Fontane zu sprechen, auf dessen Einspruch gegen die moralischen Konsequenzen der „Gespenster“. Er setzt das Stück in Beziehung zu „Irrungen Wirrungen“ und erklärt: „Hier (in der „Gespenster‘-Kritik. der Verf.) sprach der Dichter von .Irrungen Wirrungen“. Dort kam er freilich gütiger und verhüllter.“ 24 Kerr erfaßt also den Zusammenhang und den Unterschied zwischen der konservativen „Gespenster“-Kritik und dem anklagenden, erschütternd wirkenden Roman. Er gibt mit Recht diesem den Vorzug.
F'ontanes „Nora“-Urteile hätten Kerr sicherlich noch mehr verstimmt. Sie waren jedoch zum Zeitpunkt des Essays über den „Ahnherrn“ noch nicht gefällt. Für den vermuteten Protest spricht die energische Ab-
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