Heft 
(1975) 22
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kein Deutscher vor ihm. Der Meister soll noch gefunden werden. Fontane wirkt dagegen wie ein Onkel.

Aus dem Lob der Milieu- und Menschendarstellung ist aber, wie wir bereits feststellem mußten, das vom Dichter gut beobachtete, die Gesell­schaftsdarstellung zeitgeschichtlich vertiefende Detail der Mitgliedschaft Fielitz im Flottenverein ausgeschlossen. Wurzelt nun vielleicht auch der Ausfall gegen Fontane in Kerrs statischem Milieu begriff ? Beginnt er Fontane den dialektischen Determinismus, die nur andeutende, rea­listische Milieugestaltung zu verübeln? Beginnt er jetzt, 1902, in imperia­listischer Zeitgemäßheit von Fontane und dem geistvollen, humanen Causerie-Stil abzurücken? Denn die wesentlichsten Bezugnahmen auf Fontanes Werk stammen aus den 1890er Jahren, in denen auch Fontane sich zu Kerr bekannte bzw. bekennen konnte. Diese zeitliche Festlegung gilt auch für den 1899 ausgeführten Vergleich zwischen Ernst von Wol- zogens StückEin unbeschriebenes Blatt mitEffi Briest. Der Abstand zwischen beiden Werken wird besonders im zweiten Abschnitt der Kritik verdeutlicht:Fontane gibt die Tragik der armen Ahnungslosen, die man ins Eheleben stößt und schuldig werden läßt. Effi wird umblüht von der stummen Gloria, dem schlichten Elend unverdienten Schicksals. Effi stirbt einsam wie ein geschlagener Falter. Wolzogens Heldin dagegen zeugt vieles Gelächter... 29

Ausgerüstet mit dem Maßstab Fontanescher Menschengestaltung kritisiert er die oberflächliche Darstellung Wolzogens. Allerdings neigt er bei der Effi'Mnterpretation lyrisierend zur Metaphysik, zurdaseins-haften Deutung.

In der gleichen Kritik wird am Schluß als allgemeines Beispiel für künstlerische Gewissenhaftigkeit. Flaubert genannt. Damit erscheint in derWelt im Drama erstmals der Name des Künstlers, den Kerr fortan als Exempel für großes Künstlertum immer häufiger anführen wird, während Fontane zurücktritt. Kerrs Wirken als Schriftsteller ist eben auch ein Weg vonIrrungen Wirrungen zurEducation sentimentale, die er alsgrößtes Lebensbuch 9 " bezeichnet hat, ein Weg auch von Fontane zu Flaubert. 31 Dieser Wechsel in der Traditionsbeziehung war folgerichtig. Die widersprüchliche Einheit realistischer und naturalistischer, kritischer und affirmativer Elemente im Werke Gustave Flauberts ent­sprach der im Imperialismus voll entfalteten extremen, entfremdeten Widersprüchlichkeit Alfred Kerrs eher und besser als Fontanes nicht- entfremdetes, auf die Erfassung objektiver Zusammenhänge gerichtete, nicht Einzelphänomene fetischisierende episch-kritische Konzeption.

Dennoch ließen sich weitere Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen Kerr und Fontane anführen, z. B. ihre gemeinsamen Bemühungen um die Emanzipation der Frau, beider Handhabung der Form des Reisebildes oder ihr gemeinsames intensives Ringen um die künstlerische Sprache, um generelle gesprochene, gestische Sprache auch im geschriebenen Werk. Aber alle diese Gemeinsamkeiten verdeutlichen letztlich den gravierenden Unterschied, der sich zwischen beiden Kritikern und

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