Heft 
(1975) 22
Seite
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Künstlern nach dem Tode Fontanes nach vollem Einsetzen der imperia­listischen Entwicklung aus der Anfälligkeit, ja Empfänglichkeit Kerrs für die imperialistische Ideologie, besonders für ihre metaphysische Denkweise, ergibt. Während sich Fontane um dialektische Einordnung der Einzelerscheinungen bemüht hatte, isoliert Kerr die einzelnen Phä­nomene. Fontane versichtbarte an den Frauenschicksalen seiner Romane die Widersprüche der Gesellschaft, Kerr dagegen schrieb:Wie komisch, wenn man neben Männertrottel, die im öffentlichen Dasein eine Rolle spielen dürfen, Intellektuelle stellt wie beispielshalber Clara Zetkin ... Ich verspreche mir vom Mitwirken der Frau eine Beseitigung der männlichen Dummheit, die vorwiegend im Eigensinn wurzelt... Ver- weibischt soll die Welt nicht werden; aber sie kann durch das Mit­wirken der Frau etwas Einfacheres, Jünglinghafteres, Naturrechtlicheres bekommen .. , 32

Unter dem Einfluß der bürgerlichen und der sozialistischen Frauen­bewegung wertet Kerr den Antifeminismus eines Nietzsche um, bleibt aber in dessen metaphysischer Denkweise befangen, ebenso wie er dem Mann-Weib-Dualismus Hebbels und Strindbergs verpflichtet bleibt, der Fontane unerträglich war, und entschärft undvereinnahmt damit letzlich den Kampf der revolutionären Sozialdemokratie, besonders August Bebels und Clara Zetkins, zur Befreiung der Frau.

Während Fontane in seinen Reisedarstellungen schildert und generalisiert, gibt Kerr in seiner Reiseliteratur mehr diereine Impression, was zur Minderung der objektiven Substanz und des inneren Zusammenhanges führte. Während sich bei Fontane die Sprache, freilich mit hoher Geschmeidigkeit, dem Inhalt unterordnete, droht sie bei Kerr bisweilen Fetischcharakter anzunehmen, was ihm die Kritik von Karl Krause ein­trug, der die Bedeutung der Sprache zwar auch überschätzte, aber auf objektivere Weise. Die angebliche Schönheit der Formulierung triumphiert bei Kerr bisweilen über ihre humanistische Verantwortbarkeit, so daß Tilla Durieux seine zu hemmungslosen Kritiken alsRasiermesser 33 empfand.

Infolge des sicherlich weitgehend unbewußt ausgeführten bourgeoisen Klassenauftrages 34 konnte Kerr nach vollem Einsetzen der imperialisti­schen Entwicklung am Erbe Fontanes nicht festhalten, nachdem er bereits in den 1890er Jahren mit seiner Enthistorisierung und Entschärfung begannen hatte. Nietzsche als Vorbild vorwiegend in der hemmungslosen apodiktischen Selbstaussprache und Flaubert als Vertreter eines erstar­renden, naturalistisch infizierten Realismus werden fortan zu zentralen Orientierungspunkten.

Fontane seinerseits vermochte den jungen, in Inhalt und Form objektiven Kerr zu ermuntern. Der spätere, im Inhalt stärker apologetische, in der Form stärker zersplitterte Kerr wäre ihm sicherlich, ähnlich wie Lawrence Sterne, höchstens als ein einzigartiges, aber keinesfalls nach­ahmenswertesUnikum 35 erschienen.

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