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Die Tragödie Alfred Kerrs, seinen Widerspruch zwischen subjektiven humanistischen Ahsichten und objektiver Bedienung bourgeoiser Klasseninteressen infolge Zurückbleibens hinter der objektiven realgeschichtlichen, geistigen und ästhetischen Entwicklung hat Herbert Ihering als dessen schärfster bürgerlicher theaterkritischer Antipode 1927 so gesehen: „Es ist verblüffend, daß jemand, der so viel gesehen, innerlich nichts erlebt hat. Wer nur die äußeren Erscheinungen sieht, wer nur beobachtet, entwickelt sich nicht. Kerrs Reisen sind für sein menschliches, für sein künstlerisches Erlebnis nicht fruchtbar geworden. Sie haben keine neue geistige Ordnung geschaffen... Sinnliches Erlebnis, ohne geistiges Regulativ, stumpft sich ab ... Was er sah, befruchtete nicht seine Erfahrung ... Kerr hat eine Welt gesehen und ist noch immer auf eine Dramaturgie des Mitleids, der ergriffenen Menschlichkeit eingestellt.“ 33
Ihering betont vor allem den Widerspruch zwischen der Welterfahrung des Reisenden Kerr und seiner ästhetisch-dramaturgischen Zurückgebliebenheit. Die Ursache sieht er mit Recht in ungenügender weltanschaulicher Durchdringung und Verarbeitung der Eindrücke und Erlebnisse. Vor dem ersten Weltkrieg hatte auch Georg Lukäcs Dichtung als abstrakten Seelenausdruck aufgefaßt, so 1911 in „Die Seele und die Formen“. Darin teilte und vertiefte er Kerrs Auffassung vom Kunstcharakter der Kritik und des Essays und im einzelnen Kerrs aristotelische Zurückweisung des spontan-epischen Details der Flottenvereinszugehörigkeit des Schusters Fielitz im „Roten Hahn“.
1913 veröffentlichte er „Gedanken zu einer Ästhetik des Kino“, die eigentlich Gedanken gegen die Mechanik der Leinwand und für die unmittelbare Gegenwärtigkeit des großen seelenvollen Darstellers auf der Bühne sind und die damit dem Bekentnis Kerrs zum „leuchtenden Seelenschauspieler“ entsprechen. Lukäcs war jedoch nie, auch in seinen Anfängen nicht, der geistigen Unmittelbarkeit in dem Maße wie Kerr ausgeliefert. Von der geistesgeschichtlichen Position vermochte er unter Aneignung des Marxismus 1922 in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ zur analytischen Enthüllung und Erklärung der verdinglichten bürgerlichen Empfindungs- und Denkstrukturen vorzudringen, in denen Ken- befangen, ja gefangen blieb, so daß Arnold Zweig, der als Gestalter und Publizist Fontane gültiger als Kerr fortsetzte, 1947 anläßlich Kerrs 80. Geburtstag mit Recht feststellte: „Er war ein demokratischer, vorwärts gerichteter Mensch, in dessen tiefem Bewußtseinsschichten die reaktionären Ideale der deutschen Konservativen eine größere Rolle spielten, als er wußte...“ 36
Arnold Zweig formulierte damit historisch konkret, was Herbert Ihering zwanzig Jahre früher allgemeiner, d. h. weniger klassenmäßig, festgestellt hatte.
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