Heft 
(1975) 22
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des naturalistischen Literaturtheaters allerdings vorwiegend literarisch-drama­turgisch orientiert. Beispielhaft sind dafür der auf dem Höhepunkt der natu­ralistischen Bewegung geschriebene AufsatzTechnik des realistischen Dramas** (1891), die Gedenkrede für Ibsen aus dem Jahre 1898 und der Essay über den Sieg Ibsens auf der deutschen Bühne über die Epigonen (Der Ahnherr, 1896). Besonders in dem in derVossischen Zeitung auf dem Höhepunkt der natu­ralistischen Bewegung veröffentlichten Aufsatz über dasneurealistische Drama ist Kerr in der Darlegung und Erklärung naturalistischer Dramentechniken und in der Erörterung von ästhetischen Problemen der naturalistischen Methode Fontane an Differenziertheit und Genauigkeit der Analyse und in der sprach­lichen Konzentriertheit überlegen. Hier spricht Kerr auch noch von denkultur­geschichtlichen Verhältnissen, die -das moderne Drama vorführt (Die Welt im Drama, I, 433). Hier ist das Drama noch nicht auf Seelenhaftigkeit reduziert. Auch die Beziehung zu Gotthold Ephraim Lessing ist noch relativ .objektiv, obgleich der Verfasser derHamburgischen Dramaturgie in apologetischer Verfälschung bereits zu stark für das naturalistische Drama beansprucht wird. So wird Lessings Forderung nach dem Typischen als Ruf nach Darstellung der Durchschnittlichkeit des Lebens (a. a. O., S. 437) interpretiert.

13 Vgl. dazu Theodor LessingsBrief an einen Schauspieler in derSchaubühne vom 1. 2. 1912.

19 So schreibt Fritz Kortner in seiner AutobiographieAller Tage Abend. München 1959, S. 388, über Herbert Iherings Wirkung auf die Theaterschaffen­den:Man las ihn wie eine Grammatik und lernte daraus.

20 Vgl. dazu im von Joseph Chapiro hrsg. BandFür Alfred Kerr. Ein Buch der Freundschaft die Beiträge von Max Herrmann-Neiße (S. 114 f.) und Kurt Hiller (S. 116, 121).

21 Chapiro, S. 23 f.

22 Auch bei Hugo von Hofmannsthal und Marcel Proust ist angesichts der im­perialistischen Entwicklung die liberale Tendenz zur Erinnerung und Beschwö­rung des Vergangenen ausgeprägt. Bei Hofmannsthal dominiert jedoch die Vergangenheitsebene, weshalb Kerr seiner Dichtung den unmittelbaren Lebens­bezug absprach und sie als höheres Kunstgewerbe abwertete, während er selber das ihm teuere Vergangene in seine Gegenwart, dieWelt im Drama undDie Welt im Licht, hineinzunehmen suchte. Als widerspruchsvolle Uber­gangsgestalt zwischen liberaler und imperialistischer Phase der Bourgeoisie, zwischen Naturalismus, Impressionismus und Modernismus vermochte er im Unterschied zu rein imperialistischen Ideologen undreinen Modernisten Vergangenes noch nicht ganz abzuschütteln. Audi bei Marcel Proust spielen auf der Suche nach der verlorenen Zeit Erinnerung und Heraufbeschwörung des Vergangenen eine entscheidende Rolle. Doch als romanhafter, französischer Realismus-Tradition verpflichteter Gestalter gelangte er dabei doch zu einer gewissen objektiven Historizität.

23 Alfred Kerr:New York und London, Berlin 1923, Prolog, Abschnitt XI.

24Die Welt im Drama, I, 64.

25 Thomas Mann inDer alte Fontane inAdel des Geistes, Berlin 1956, S. 494.

26Aller Tage Abend, S. 411.

27Die Welt im Drama, I, 125.

28Die Welt im Drama, I, S. 126.

28aDie Welt im Drama, I, S. 94.

29Die Welt im Drama, IV, 44.

30Die Welt im Drama, I, 211.

31 Indirekt scheint die Abkehr von Fontane nach 1900 durch das kritisch-paro- distische Verhältnis Kerrs zu Thomas Mann bestätigt, der durch die Intellek­tualisierung der Causerie sich alsbewußtester Erbe Fontanescher Erzählkunst (Günter Jäckel, in Fontane-Blätter, II, 2, 1970, S. 94) erwies. Kerr kritisierte an Thomas Mann die Bewußtheit der künstlerischen Arbeit und die epische Breite. Er entsprach nicht seinem irrationalen Genie-Begriff. Thomas Mann seinerseits sah sich durch Kerrs Deklarierung der Kritik zur vierten Dicht­gattung im poetischen Charakter seiner kritischen Prosa bestätigt.

32Die Welt im Drama, III, S. 226.

33 Tilla Durieux:Eine Tür steht offen, Berlin 1965, S. 75.

34 Während Fontane im Alter immer systemfremder wurde, wurde Kerr nach 1900 in zunehmendem Maße systemkonform. So versuchte er 1911 in der Zeit­schriftPan (in Nr. 21 vom 1. 9. 1911) die Sozialdemokratie in die imperia­listische deutsche Koloialpolitik einzuspannen. Er appellierte damals an die

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