Heft 
(1975) 22
Seite
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Hervorgehoben werden der Esprit der Dialoge und die Aktualität der Probleme wie Politik und Standesehre. Den oft erhobenen Vorwurf, die Handlung der Romane Fontanes sei schwach, weist Vengerova zurück. Während Wyzewa und auch andere Literaturkritiker in der eingeschränkten Handlung einen Mangel an künstlerischer Meisterschaft erblickten, nennt Vengerova dies eine Besonderheit, die daraus resultiere, daß Fontane seine Hauptaufgabe in einer detaillierten Analyse seiner Helden und in der minutiösen Beschreibung von Einzelheiten gesehen habe.

1899 wurden, nachdem 1891 schonUnwiederbringlich in einer russischen Zeitschrift erschienen war, 10a die russischen Leser mit zwei Romanen Fon­tanes bekanntgemacht;Effi Briest erschien in der ( Übersetzung von An. und Al. Reinholdt undFrau Jenny Treibei in der Übersetzung von N. Korelina. 11 Dem letztgenannten Roman war ein Vorwort aus der Feder M. S. Korelins mit biographischen Einzelheiten über Fontane vorausgeschickt, in dem auch der Versuch unternommen wurde, eine Vorstellung von der Weltanschauung des Dichters zu geben. Die Wider­sprüchlichkeit seiner politischen Ansichten wurde richtig erkannt, die Vielseitigkeit seines Schaffens als Romancier, Kritiker und Journalist wurde vermerkt. Korelin ist der Meinung, daßdie Erscheinungen des Lebens in ihm niemals Enthusiasmus und Entzücken hervorrufen, sondern meistens Ironie, eine Mischung von Lachen und Mitgefühl. Fontanesgrößte und charakteristische Werke, deren Handlung zu seiner Zeit spielt, seienEffi Briest undFrau Jenny Treibei. In ihnen zeige sich Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit der dargestellten Wirklichkeit und Meisterschaft der psychologischen Enthüllung. Besonders bemer­kenswert sei der Umstand, daß der Dichter... seine ausschließliche Aufmerksamkeit nicht nur äußerlicher Verkommenheit zuwendet, und die Wirklichkeit nicht protokollhaft aufzeichnet, sondern daraus künstle­rische Gestalten zu formen weiß.

In den neunziger Jahren zählten viele deutsche Kritiker Fontane zu den Naturalisten, ja, einige Vertreter derneuen Schule nannten ihn einen der ihren. In dieser Hinsicht war die russische Kritik einheit­licher, da sie Fontane für einen konsequenten Verfechter realistischer Prinzipien hielt. So schrieb Korelin in der Einleitung zuFrau Jenny Treibei: ... obwohl er sich eng an die Wirklichkeit hielt, war Fontane von einem Naturalismus im französischen Sinne weit entfernt. Hinsicht­lich Fontanes Verhältnis zu seinen Helden und den von ihm beschrie­benen Ereignissen meint der Verfasser des Vorworts:...bei ihm ist weder Pathos, noch pessimistische Lyrik anzutreffen, aber ein enges Verhältnis des Autors zu dem von ihm Dargestellten ist immer zu spüren, und der Grundton dieses Verhältnisses ist Ironie. 13

In der deutschen Kritik gab Fontanes letzter RomanDer Stechlin manchen Anlaß zu unterschiedlichem Urteil. Man glaubte sogar, dieses Werk trage den Stempel des Verfalls. Die russische Kritik dagegen erkannte die Bedeutung desStechlins sehr gut; so ist Korelin der

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