Heft 
(1975) 22
Seite
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Effi Briest erneut ins Russische übersetzt; 1971 erschien ein Band mit den ErzählungenSchach von Wuthenow, dem RomanIrrungen Wirrungen undFrau Jenny Treibet. Den Büchern vorangestellt sind Einleitungen über Fontanes Schaffen von S. P. Gizdeu 20 und I. M. Frad- kin 21 . Der vierte Band der von der Akademie der Wissenschaften her­ausgegebenenGeschichte der deutschen Literatur enthält einen eben­falls von I. M. Fradkin geschriebenen Artikel über Fontane. 22

Die sowjetischen' Literaturwissenschaftler, die die Widersprüche in Fon­tanes Weltanschauung und ästhetischen Ansichten sehr wohl vermerken, sind der Meinung, daß dieser große Realist einerseits die humanistischen Traditionen der deutschen Literatur der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts fortgesetzt, andererseits die Blüte des deutschen kritischen Realismus des 20. Jahrhunderts vorbereitet hat. Fradkin ist der Ansicht, daß durch das Schaffen Thomas Manns (vor allem), ferner Georg Hermanns, Hans Falladas und einiger anderer Fontanes Erbe fruchtbringend in die Literatur des deutschen Realismus des 20. Jahr­hunderts eingegangen ist. 23

In dem einleitenden Artikel S. P. Gizdeus zur russischen Übersetzung vonEffi Briest (1960) heißt es, daß Fontaneungeachtet seiner subjektiven Symphatien in seinen Romanen ein unverfälschtes mora­lisches Bild des preußischen Adels-gegeben hat. 24 Das Endergebnis der Entwicklung von Fontanes politischen Ansichten sei die Anerkennung der historischen Rolle der Arbeiterklasse gewesen.

Als einen charakteristischen Zug seines Schaffens betrachtet Gizdeu Fontanes feinfühliges Verständnis für seine Gegenwart:Fontane ent­deckte und verstand vieles von dem, was um ihn herum vorging, und fand neue künstlerische Mittel für die Wiedergabe des Erkannten. Gizdeu verweist auf die aktuelle Problematik von Fontanes sozial­psychologischen Romanen und Erzählungen der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts; seine künstlerische Methode habe den Forderungen und dem Geist der Zeit vollkommen entsprochen. Eine Besonderheit seiner Werke sei, daß in ihneninfolge des ausschließlichen Aufzeigens der privaten Sphäre der soziale Hintergrund von der fami­liären Thematik überdeckt ist. Der sowjetische Literaturwissenschaftler ist der Ansicht, daß Fontane aufrichtige Menschlichkeit und echte Gefühle in derkleinen Welt der einfachen Leute aufgespürt hat. Er zieht eine interessante Parallele zwischen Theodor Fontane und A. P. Cechov: In seinem Streben nach Einfachheit des Sujets, in seiner Fähigkeit, das bewegende Moment im Alltäglichen zu entdecken, erinnert Fontane an A. P. Cechov. 25 Hinsichtlich der Meisterschaft Fontanes im Dialog fühlt sich Gizdeu wiederum an Cechov erinnert; er führt weiter aus:Fontanes Dialoge sind nicht durch das bedeutsam, was in ihnen mitgeteilt wird, sondern vor allem dadurch, wie der seelische Zustand des betreffenden Menschen in einer bestimmten Situation deutlich gemacht wird durch das, worüber nicht direkt gesprochen wird. In Fontanes Dialogen klingt sehr stark ein eigentümlicher lyrischer Untertext mit; und wie banal

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