spricht z. B. in „Effi Briest“ die unterbrochene Handlungsführung, das Fehlen der Beschreibung der wichtigsten Ereignisse wie Hochzeit, Reise durch Italien und die Beziehungen Elfis zu Krampas. Nach Gizdeus Meinung „ ... ist die Hauptsache im Roman nicht das Ereignis, sondern der seelische Zustand der Helden, nicht die leidenschaftslose Erzählung, sondern die emotionale Atmosphäre“.*'
Über Fontanes Bedeutung heißt es abschließend: „Die deutschen Realisten des 20. Jahrhunderts sind Fontane in vielem verpflichtet.“ Als wichtigste Züge seines Schaffens vermerkt er „die kritische Einstellung zu der ihn umgebenden Welt, die Genauigkeit der sozialen Charakteristik, die Fähigkeit, beherrscht und gleichzeitig überzeugend die geistige Mentalität seiner Zeitgenossen nachzubilden, sowie die bewundernswürdige Konkretheit der Darstellung...“ 30 Gizdeu ist der Meinung, daß Fontanes lebenskräftige Romane auch heute noch den Leser durch Wahrhaftigkeit und künstlerische Meisterschaft in ihren Bann ziehen.
Auch der sowjetische Gelehrte I. M. Fradkin, dessen Spezialgebiet die Geschichte der deutschen Literatur ist, beschäftigte sich eingehend mit Fontane. Er verfolgte u. a. die Entwicklung seiner politischen Anschauungen und kam zu dem Schluß, daß der Dichter in den neunziger Jahren in der Erkenntnis, das künftige Deutschland werde den Werktätigen gehören, eindeutig demokratische Positionen eingenommen habe. 31 Fradkin läßt durchaus nicht Fontanes Sympathien für das Junkertum außer acht, führt aber den langen und komplizierten Prozeß ihrer Überwindung überzeugend vor. 32 Er untersucht Fontanes frühes Schaffen, die Publizistik des Jahres 1848 und seine journalistische Tätigkeit in der konservativen preußischen Presse. Von der letztgenannten Tätigkeit heißt es: „...dieser Dienst erschwerte und verdrängte zwei Jahrzehnte lang die Erfüllung von Fontanes Hauptaufgabe“. 33 Die Werke der fünfziger und sechziger Jahre werden als nebensächlich und zweitrangig gewertet. Besondere Aufmerksamkeit wendet Fradkin den ästhetischen Anschauungen Fontanes zu. Er betont seinen konsequenten Kampf für die Festigung realistischer Tendenzen in der deutschen Literatur, doch verschweigt er auch die Widersprüche und Unrichtigkeiten in seinen ästhetischen Ansichten nicht (die Theorie einer die Wirklichkeit „verklärenden“ Kunst, des heiteren Darüberstehens, die Tendenz zur Verwischung scharfer Konflikte und Milderung sozialkritischer Motive). 34 Fradkin benutzt auch Material, da,s noch nicht ins Russische übersetzt ist, insbesondere zieht er den Briefnachlaß des Dichters heran, wobei er viele seiner Briefe und auch Aufsätze zum erstenmal in russischer Sprache einführt.
Fradkin teilt Fontanes Schaffensweg in drei Perioden ein. Die erste umfaßt die Jahre 1834 bis 1850. Das Schaffen dieser Zeit „war von einer freiheitlichen demokratischen Haltung durchdrungen, die dem gesellschaftlichen Aufschwung der vorrevolutionären Zeit und dem Revolutionsjahr entsprach“. 33 Die zweite Periode (1850—1878) ist mit Fontanes Tätigkeit an der regierungstreuen Presse identisch. „Nachdem die demokratische Woge, die nichl zum Ziel geführt hatte, Fontane nicht mehr
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