ung von dem Fontane der vierziger Jahre unterschied.“ (Fontanes Kritik an den deutschen Emigranten, sein Urteil über Dickens, der sich „in die Demokratie gestürzt habe“). Doch kommt der sowjetische Literaturwis- senschaftler aufgrund einer eingehenden Analyse von Fontanes Schaffen und Briefnachlaß der fünfziger bis siebziger Jahre zu dem Schluß, daß er sogar in dieser Zeit „ ... kein eingefleischter Reaktionär, Chauvinist oder Apologet der Hohenzoflem und des preußischen Militarismus gewesen ist“. Er vermerkt gerechterweise die kritischen Töne und den antibourgeoisen Charakter der Skizzen über England. Seiner Meinung nach wurden viele Thesen in den Büchern über den französisch-preußischen Krieg von 1870 71 „als direkte Provokation gegen das Preußentum aufgefaßt, als Schmähung der offiziellen Staatsdoktrin“.
Über Fontanes dritte Schaffensperiode schreibt Fradkin: „...Fontanes Konflikt mit, der Gesellschaft — nicht nur in persönlicher, sondern auch in weltanschaulicher und sozialer Hinsicht — nahm eine immer schärfere Form an.“ Der Dichter erkannte, daß auch in einem vereinten Deutschland Arbeit und Armut das Los der werktätigen Massen blieb. Er war Zeuge der drohenden Ausbreitung eines großdeutschen Chauvinismus, und zornig brandmarkte er Militarismus und Kolonialismus. In vielem der revolutionären Ideologie der Proletarier fern, schwang sich Fontane doch zu verblüffenden Erkenntnissen auf, die von einer historischen Scharfsichtigkeit zeugen (die Rolle des vierten Standes, die Dekadenz des Adels, die Sinnlosigkeit grausamer Maßnahmen gegen die Sozialdemokraten). Die politischen Ansichten des alten Fontane fanden auch in seinen Romanen und Erzählungen der achtziger und besonders def neunziger Jahre ihren Niederschlag. Fradkin teilt sie in zwei Kategorien ein' zur ersten zählt ep jene, deren Handlung in Berlin und in den kleinen Städten und Junkerlandsitzen Brandenburgs spielen („Schach von Wuthenow“, „Irrungen — Wirrungen“, „Mathilde Möhring“, „Frau Jenny Treibei“, „Effi Briest“ und „Die Poggenpuhls“). Zur zweiten Kategorie zählt er Werke, die mehr am Rande des Fontane eigentlich bewegenden Fragenkomplexes liegen („Graf Petöfy“, „Quitt“, „Unwiederbringlich“ und andere).
Fontanes erster Roman „Vor dem Sturm“ war nach Fradkins Meinung „Ausdruck der Entwicklung der sozialen und politischen Ansichten, die - Fontane im Laufe der sechziger und siebziger Jahre durchgemacht hatte. Er entbehrt der Geschlossenheit: Konservatives aus der vorhergehenden Etappe verschmolz wunderlich mit Progressivem. In künstlerischer Hinsicht zeugt der Roman von Mangel an Erfahrung und sticht von den späteren wesentlich ab.“ Ein ernster Fehler sei die Behandlung des Freiheitskrieges von 1813 im Geiste traditionell-konservativer preußischer Vorstellungen. Durch die Wahl Bernd von Vitzewitz’, dessen Prototyp der reaktionäre von der Marwitz war, zum Haupthelden des Romans, ließ der Autor die — nach Lenins Meinung — besten Männer Preußens wie Scharnhorst und Gneisenau, Stein und Arndt, in den Hintergrund treten. „In der Darstellung der preußischen Gesellschaft ,vor dem
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